Unterm Strich
über die geredet wird, und denen, über die geredet werden müsste, immer grotesker wird«.
Substanz geht aber nicht nur durch Banalisierung verloren. Substanz wird durch Gesichter ersetzt. Jedes politische Thema muss personalisiert werden. Im Vordergrund müssen Personen stehen, damit ein sonst zu dröges oder kompliziert anmutendes Thema einen Kick bekommt. Der politische Inhalt ist zweitrangig. Bei der Debatte über die Rente mit 67 in der SPD geht es der Berichterstattung nicht in erster Linie um die Frage der demographischen Rahmenbedingungen, sondern um Frank-Walter Steinmeier als Agenda-2010-Erbverwalter und Sigmar Gabriel als Exorzisten. In der Entstehungsgeschichte des 12-Milliarden-Euro-Programms für die Betreuung der unter Dreijährigen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf insbesondere für Frauen in einer alternden Gesellschaft einigen Medien wichtig erschien. Aber viel süffiger fanden mehrere andere die Story, wie sich die zierliche Familienministerin Ursula von der Leyen und der finster blickende Finanzminister in der politischen Arena duellierten - dabei zogen wir ziemlich schnell gemeinsam am selben Strang.
Politik erhält über diese Personalisierung den Charakter von Sportereignissen. Wer ist oben? Wer gewinnt? Wer verliert? Wer hat »Härte« gezeigt? Wer hat nachgegeben und das politische Gesicht verloren? Demnächst tauchen Politiker in einer Bundesligatabelle auf den Sportseiten auf. Die in vielen Presseorganen regelmäßig publizierten Rankings über die Wichtigkeit oder Beliebtheit von Politikern zeichnen diesen Wechsel von den politischen Seiten über das Feuilleton und die Klatschspalten in den Sportteil bereits vor.
Mit Wonne betreiben Medien Personalspekulationen, und seien sie noch so abstrus. Sie sind das Salz in der faden politischen Suppe. Dass die Trefferquote belustigend niedrig ist und für jedes dörfliche Schützenfest disqualifiziert, spielt keine Rolle. Ein Fragezeichen hinter der Personalstory signalisiert den Irrtumsvorbehalt. Die auf Stunden oder wenige Tage bemessene Halbwertszeit, die Gnade der Vergesslichkeit und das nächste mit einem Namensschild versehene Nutztier, das über den Marktplatz gejagt wird, sorgen dafür, dass den medialen Absendern dieser Personalopern nie oder selten unter die Nase gerieben wird, wie weit und wie off sie sich vergaloppiert haben.
Wenn das relativ häufig seriösen Presseorganen passiert, hat es eine »Qualität«, die nicht belanglos ist. Nach dem Rücktritt von Matthias Platzeck vom SPD-Parteivorsitz im Frühjahr 2006 »lauern die Minister Gabriel und Steinbrück auf ihre Chance« im Rennen um die Kanzlerkandidatur und »spekulieren darauf, in ihrem neuen Amt als Finanzminister und Umweltminister so viel Kompetenz und Wählerstimmen tanken zu können, dass im entscheidenden Moment niemand an ihnen vorbeikommt«. Immerhin, mit fünf- bis sechsjähriger Verspätung könnte das auf Sigmar Gabriel zutreffen. »Beck ins Kabinett?«, lautete im Februar 2007 eine Überschrift, unter der die irre Vermutung geäußert wurde, dass Kurt Beck den wegen der Affäre Kurnaz in Schwierigkeiten geratenen Frank-Walter Steinmeier als Außenminister ersetzen solle. »Merkel will Steinbrück belohnen« und zu einem internationalen Posten verhelfen, hieß es im September 2009. »Denkbar wäre daher ... dass Steinbrück das Amt des deutschen EU-Kommissars zugesprochen bekommt.«
Diese Personalspielchen sind nicht etwa vom Boulevard oder von Illustrierten des Gesellschaftsklatsches angestrengt worden, sondern allesamt von »dem« Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Selbst dieser seriösen Institution ist das Genre des Lore-Romans nicht fremd, wie man in einem Bericht auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise im Herbst 2008 nachlesen kann: »Wenn der Finanzminister über die Kanzlerin redet, ist das pures Schwärmen, als hätte er sich über beide Ohren verliebt in die Kanzlerin, zumindest in deren Krisenmanagement.«
Typisches Produktionsmittel der heutigen Medienlandschaft ist die Windmaschine, die laufend Pseudonachrichten erzeugen muss, um im Stundenrhythmus ihre Kunden zu bedienen. Falschmeldungen werden von Online-Diensten nur in den seltensten Fällen richtiggestellt. Sie werden einfach aus dem Internetauftritt herausgenommen. Das ist schließlich auch eine Art Korrektur. In der Berliner Republik hat diese Hyperventilation um mehrere Einheiten auf der Beaufort-Skala zugenommen, während man sich
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