Unterm Strich
allgemeinen Glaubwürdigkeitsdefizit von Politik zusammen. Sind unsere Politiker wirklich in der Lage, fragen sich viele Bürger besorgt, die Gruppeninteressen dort zurückzuweisen, wo sie mit dem Allgemeinwohl kollidieren? Das komplexe Kräfteparallelogramm, in dem diverse Akteure auf politische Entscheidungen »ihrer« Regierung Einfluss zu nehmen versuchen, irritiert sie.
Die eigene Partei (noch anstrengender kann eine Schwesterpartei sein), die eigene Fraktion, ein oder mehrere Koalitionspartner, die Opposition, der Bundesrat mit den Ländern, kommunale Spitzenverbände, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen, Medien und eine außerparlamentarische Expertokratie - die durch die EU und oberste Gerichte gesetzten Rahmenbedingungen nicht zu vergessen -: alle zanken und zerren und schreien Zeter und Mordio, wenn es nicht ganz nach ihren Wünschen läuft. Dies ist Ausdruck einer demokratisch-pluralistisch verfassten Gesellschaft. Dies ist gewollt. Aber: Es ist anstrengend. Dafür wacht man am Morgen angstfrei auf und weiß sich vor Willkür und einsamen Entschlüssen eines Condottiere sicher.
Das mühsame Austarieren der Kompromisse ist jedoch all denen schwer zu erklären, die in der Unübersichtlichkeit des politischen Geländes größere Stringenz, Effizienz und Durchsetzungskraft fordern. Sie verweisen darauf, dass viele wichtige politische Vorhaben am Einfluss von Lobbys, in den Mühlen der Konsensbildung oder auch an parlamentarischen Anwälten einzelner Gruppeninteressen gescheitert sind oder bis zur Unendlichkeit kleingeraspelt wurden. Sie sehen darin einen kaum umkehrbaren Trend, der darauf hinausläuft, dass den permanenten Anpassungserfordernissen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr zeitnah entsprochen werden kann. Die daraus resultierende Frustration und Geringschätzung von Politik nimmt zu.
Diese Haltung erstreckt sich vor allem auf »die Parteien«. Dabei mischt sich nicht selten ein gefährlicher Unterton in die Kritik, der böse Assoziationen weckt und mich gelegentlich an die Verachtung des Parteienwesens und generell des Parlamentarismus während der Weimarer Republik erinnert. Natürlich haben die etablierten Parteien in Deutschland genügend Anlass, sich selbstkritisch mit ihrer Präsentation zu Beginn des neuen Jahrzehnts zu beschäftigen. Nostalgische Rückblicke mögen der Selbstvergewisserung dienen, Antworten auf die künftige Rolle und Aufstellung der Parteien liefern sie kaum. Ihre Orientierung muss erheblich erweitert werden.
Die Parteien werden sich viel stärker auf die konkreten Lebens- und Arbeitswelten der Menschen einlassen müssen; sie werden ihre Antennen für grundlegende Veränderungen und neue Strömungen neu ausrichten und ihr Alltagsverhalten in Übereinstimmung mit den von ihnen proklamierten Werten und Grundüberzeugungen bringen müssen; sie werden sich für interessierte, aber nicht unbedingt auf ein Parteiprogramm festzunagelnde Bürger öffnen, das Profil und die Qualität ihres (Spitzen-)Personals verbessern und ihre (Internet-)Plattformen für jüngere Menschen attraktiver gestalten müssen.
Der Eindruck ist verbreitet, dass sich die innere Verfassung der altbundesrepublikanischen Parteien, ihre Rituale, ihre Organisation und ihre Veranstaltungsformate seit den sechziger Jahren nicht wesentlich geändert haben. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, mit Ausnahme von Bündnis 90/Die Grünen - diese allerdings mit einer Tendenz zur Anpassung -, werden als selbstreferenzielle Systeme wahrgenommen, die ausschließlich sich selbst verpflichtet sind und sich selbst genügen. Und dennoch: So berechtigt die Kritik an den Parteien auch ausfällt, sie sind der einzig vorstellbare Träger der demokratischen Willensbildung. Wer denn sonst? Verbände? Interessengruppen? In ihrer Zusammensetzung höchst volatile und heterogene Bürgervereine, eine Auswahl verdienter Persönlichkeiten, bewährte Experten? Die Mängel und Defizite von Parteien, ihre kritikwürdigen Seiten haben Politikverdrossenheit gewiss befördert. Aber die Konsequenz, sich von ihnen abzuwenden, sich bei Wahlen zu verweigern, Parteien gar für obsolet zu erklären, ist sehr gefährlich.
Politiker und Parteien haben lange den Eindruck vermittelt, sie könnten alle Probleme lösen. Sie stellten sich als geradezu omnipotent dar - und wurden dann zu ihrem eigenen Erschrecken auch dafür gehalten. Da sie diesen Anspruch aber bei steigender Komplexität der Probleme
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