Unterm Strich
weniger denn je erfüllen können, stecken sie jetzt tief im Dilemma. Unterdessen ist die Erwartungshaltung vieler Bürger ins Unendliche gestiegen - manch einer erwartet sich vom Staat nicht weniger als eine Vollkaskoversicherung gegen alle persönlichen Widrigkeiten des Lebens. Selbst wenn die Politik über die Voraussetzungen verfügen würde, allen Erwartungen zu entsprechen und eine Rundumsicherheit zu gewährleisten, stellt sich die Frage, ob das eigentlich gesellschaftlich erstrebenswert wäre. Was hieße das für Erneuerungsbereitschaft, Unternehmungslust und Unternehmenskultur, für die Vitalität und Dynamik unserer Gesellschaft?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich rede hier nicht von großen Lebenskrisen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Armut im Alter. Was mich beschäftigt, ist jene Mentalität, die dem Staat wie selbstverständlich abverlangt, alles, selbst die negativen Folgen individueller Entscheidungen im persönlichen Bereich, zu kompensieren. In einem merkwürdigen Widerspruch dazu möchten sich die gleichen Leute diesen Staat ansonsten lieber auf Meilen vom Hals halten.
Aus dieser Passage muss niemand Pulver für den Klassenkampf fabrizieren. Diese Mentalität findet sich ausnahmslos in allen Etagen der Gesellschaft. Bei der Rettung der Banken in der Finanzmarktkrise wurde deutlich, dass der Einsatz von 500 Milliarden Euro öffentlicher Mittel von einigen Spitzenvertretern der Wirtschaft, in manchen Redaktionen und wissenschaftlichen Instituten ganz anders bewertet wurde als beispielsweise der Einsatz von 1 Prozent dieser Summe für ein Sozialprogramm. Aus ihrer Sicht war der Staat hier - ordnungspolitische Grundsätze hin oder her - unzweifelhaft gefordert, während sie Letzteres für Verschwendung hielten oder als Sozialklimbim abtaten.
Der Nobelpreisträger für Ökonomie Joseph E. Stiglitz brachte es auf den Punkt: »Die Bankenrettung enthüllte die allumfassende Heuchelei. Diejenigen, die unter Hinweis auf den Staatsetat Zurückhaltung gepredigt hatten, als es um kleine Sozialprogramme für die Armen ging, forderten nun lautstark das größte Sozialprogramm der Welt... Diejenigen, die von Rechenschaftspflicht und >Verantwortung< gesprochen hatten, wollten nun den Schuldenerlass für den Finanzsektor.«
Auf der anderen Seite muss ich hier eine Geschichte erwähnen, die mir ein Lehrer aus einer Berliner Hauptschule erzählte, der seine Schülerinnen und Schüler nach ihren Berufsplänen fragte. Mehrere aus der Klasse gaben mit sprachschöpferischer Begabung die verblüffende Antwort: »Hartzer.« Gemeint ist, sich gleich nach der Schule dauerhaft in Hartz IV einzurichten. Das funktioniert offenbar, denn sonst kämen die jungen Menschen ja nicht auf diese Idee.
Der schwere Mantel der politischen Korrektheit und der unerquickliche Aufwand, den man betreiben muss, um hinterher zu versichern, dass man es so und wiederum auch so nicht gemeint hat, hindern einen daran, auszusprechen, was Sache ist: Es gibt in der unteren Etage der Gesellschaft - und nicht nur als verschwindende Ausnahme, die man vernachlässigen könnte - offenbar eine Alimentationsmentalität, die zu Lasten der Solidargemeinschaft geht. Und es gibt durch alle Stockwerke unseres Gesellschaftsgebäudes hindurch, eine Tendenz, Verantwortung für sich selbst und seine Nächsten an den Staat zu delegieren.
Die Widrigkeiten, Gefährdungen und Herausforderungen des wirtschaftlich-technischen Wandels im weltweiten Maßstab wecken die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Der Ruf nach einem Befreiungsschlag wird lauter. Diesen Reflex bedienen zum Beispiel die Anhänger einer Antiglobalisierung. Sie finden sich rechts und links an den Rändern des politischen Spektrums mit teilweise verblüffend ähnlichen nationalistischen und protektionistischen Einfärbungen. Selbst wenn sie differenzierter argumentieren, haftet ihrem Ausdruck etwas Irrationales an, zumal sie unterschwellig daran festhalten, dass die Globalisierung rückgängig zu machen wäre. Die Globalisierung ist aber ein irreversibler Prozess.
Die zentrale Frage lautet, ob wir genügend Einfluss haben und genügend Gewicht auf die Waagschale bringen, um diesen Prozess aktiv mitzugestalten. Die Schattenseiten sollen nicht unterschlagen werden. Aber per Saldo profitieren offenbar so viele Länder von den Vorteilen der Globalisierung - einschließlich einer bemerkenswerten Entwicklung der Durchschnittseinkommen ihrer Bevölkerung -, dass es unmöglich ist, den Stecker aus
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