Unterm Strich
wahrgenommen wird. Die Verbreitung des Orwell'schen New Speak (aus einem Propagandaministerium wird ein Wahrheitsministerium), das Leugnen handfester Konflikte, die Verharmlosung der Probleme, die Beharrlichkeit, mit der Unfug - erinnert sei an das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz vom Dezember 2009 - als der Weisheit letzter Schluss verkauft wird: das alles hat seine desaströse Wirkung auf das breite Publikum nicht verfehlt, unabhängig davon, welcher politischen Farbenlehre der Einzelne zuneigt. Mein Lieblingssatz politisch nichtssagenden Inhalts lautet: Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis. Das ist schon fast Entertainment.
Genau dazu scheinen sich manche Politiker hingezogen zu fühlen. In merkwürdigen Posen steigen sie Woche für Woche in die Bütt und lassen sich in dem bei ihnen besonders beliebten Medium der Talkshow dazu verleiten, der Politik die letzte Ernsthaftigkeit auszutreiben. Mit dem fatalen Ergebnis, dass sie nach einigen Engagements allgemein auch genauso wahrgenommen werden - als Clowns oder Entertainer. Politik ist aber nicht Unterhaltung. Sie hat sich um die öffentlichen Angelegenheiten - die res publica - zu kümmern. Dabei muss sie nicht steif oder humorlos sein. Aber sie darf nicht ins Genre der Unterhaltung abgleiten - dann wäre Hape Kerkeling tatsächlich der bessere Kanzlerkandidat.
Es gibt allerdings auch strukturelle Defizite, die viel politischen Kredit bei den Bürgern kosten. Sie liegen insofern in der Verantwortung der politischen Klasse, als diese sich seit Jahren unfähig zeigt, sie zu lösen. Ich meine das Problem des deutschen Föderalismus und die Notwendigkeit einer umfassenden Föderalismusreform. Die Vorstellung, es säße da in Berlin eine mächtige Zentralregierung, die alle Fäden in der Hand hält, um Subsysteme wie Bildung, Gesundheit, Steuern oder Soziales problemadäquat und zukunftsorientiert steuern zu können, wenn sie nur wollte, ist eine Chimäre.
Der Interessenausgleich im deutschen Föderalismus ähnelt längst einem Basar, auf dem die Deals nach spezifischen Landesinteressen und unter politischer Gesichtswahrung der jeweiligen Regierungskoalition gemacht werden. Im Zweifelsfall muss der Bund immer draufsatteln. Es kommt kein Kompromiss zu zentralen finanzwirksamen Reformvorhaben zustande, ohne dass der Bund beispielsweise Mehrwertsteuerpunkte abgeben oder Vorwegabzüge aus dem Aufkommen dieser Steuer einräumen muss. Die Länder pochen darauf, dass sie nicht die Leidtragenden - also die Kostenträger - einer Gesetzgebung des Bundes sein können; wer die Musik bestellt, so argumentieren sie, muss sie auch bezahlen. Im Ergebnis muss der Bundeshaushalt auf der Einnahmenseite immer mehr den Ländern (und ihren Kommunen) überlassen, Länder und Kommunen sind dadurch aber keineswegs von ihren finanziellen Sorgen befreit. Alle spielen Mikado - nach dem Motto: Wer sich zuerst bewegt, verliert.
Ein solcher Trend, der den Ruhezustand als die politisch klügste, weil risikolose Variante verspricht und wichtige politische Projekte vordringlich der Maßgabe einer Kompensation im Verhältnis von Bund, Ländern und Kommunen unterwerfen muss, lässt den deutschen Föderalismus zu einem Hemmschuh werden. Jedenfalls erweist er sich nicht gerade als Platzvorteil gegenüber anderen, mehr oder weniger zentralistisch organisierten Nachbarstaaten. Das ursprünglich richtig konzipierte Checks-and-Balances-System des deutschen Föderalismus droht paralytische Wirkung zu entfalten.
Die Bürger nehmen diese Entwicklung mit richtigem Gespür als ein Versagen der Politik wahr. Konkrete Erfahrungen sagen ihnen zum Beispiel, dass die größte Hürde für eine umfassende Bildungsreform in Deutschland im Föderalismus liegt: Jeder Umzug mit Kindern von einem Bundesland in ein anderes bestätigt ihnen dieses Urteil. Ich habe noch keine öffentliche Veranstaltung erlebt, in der nach einer solchen Feststellung der Beifall nicht aufbrandete. Da die Bürger sich für die Zuständigkeitsfragen entlang von Ländergrenzen oder im Verhältnis zwischen Bund und Ländern aber nicht interessieren - was man ihnen nicht verübeln kann -, laden sie ihren Unmut bei der Zentralregierung ab, dort, wo die Staatskapelle eben spielt.
Neben dem nicht funktionierenden Zusammenspiel in unserem Föderalismus gibt es ein weiteres strukturelles Problem, das die Erwartungen der Bürger an eine Politik auf der Höhe der Zeit immer wieder enttäuscht. Es hängt mit dem
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