Unterm Strich
EU über weitere Beitritte der Gefahr einer Überdehnung und damit letztendlich einer Schwächung unterliegt. Mit 27 Mitgliedsstaaten stößt sie bereits an die Grenze ihrer Koordinations- und Arbeitsfähigkeit, nicht zuletzt deshalb, weil der verspätete EU-Reformvertrag eine Einigung unterhalb der Erfordernisse zur Stärkung und Straffung der EU darstellt. Eine nächste, mit den Balkanstaaten anstehende Erweiterungswelle würde die EU in die Größenordnung von 30 Mitgliedsstaaten katapultieren. Sie könnte ein Präjudiz für weitere Beitrittsinteressenten schaffen. Das Entwicklungsgefälle innerhalb der EU mit einem Sog auf zusätzliche Transferströme würde sich verstärken. Die Stimmen, die auf einen schlagkräftigeren Kern Europas drängen und damit auf eine Art europäische Zweiklassengesellschaft, bekämen konsequenterweise Auftrieb.
Es wäre fahrlässig, ein solches Szenario zu verdrängen. Die Schwäche liegt darin, dass es kein schlüssiges Konzept zur zukünftigen Beitrittspolitik der EU gibt, weder in Deutschland, wo eine Erweiterung der EU reflexhaft positiv belegt zu sein scheint, noch auf der Ebene der Union. Deutschland müsste dazu die Initiative ergreifen. Andere warten darauf. Natürlich ist mir bewusst, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Balkanstaaten wie Kroatien und Mazedonien Erwartungen geweckt hat, die nicht ohne politische Folgen enttäuscht werden können. Aber was heißt das dann für Albanien, Montenegro oder - Schreck, lass nach - eines Tages den Kosovo?
Natürlich will ich auch nicht einen Stock in die Speichen des längst rollenden Verhandlungsrads um die Aufnahme der Türkei stecken, die Günter Verheugen sogar als entscheidenden Testfall für die Fähigkeit der EU bezeichnet hat, in eigener Verantwortung eine weltpolitische Entscheidung zu treffen. Wenn man das allerdings in einem solchen Großformat betrachtet, dann gibt es nicht mehr viel abzuwägen. Die politische Perspektive, mit der Türkei in der EU eine Brücke in den Nahen Osten zu schaffen, die zu einer Entspannung zwischen abendländischer und islamischer Welt führen könnte, ist faszinierend genug, um sie gründlich auszuleuchten. Aber deshalb ist es doch nicht abwegig, darüber nachzudenken, ob die EU nicht Gefahr läuft, sich an einem Beitritt der Türkei zu verheben, ihre weitere Integration eher zu erschweren, ihren inneren Zusammenhalt zu gefährden und ihre Kräfte zu überfordern. Das flammende Plädoyer des Bundeskanzlers und des Außenministers der rot-grünen Bundesregierung, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, für eine enge Bindung der Türkei an Europa ist mir bewusst. Aber ihre Argumente, die vornehmlich einer sicherheits- und geopolitischen Logik folgen, beantworten mir nicht die Frage nach den Auswirkungen eines Beitritts der Türkei auf die Kohäsion der EU. Und nicht nur Helmut Schmidt steht unter dem Eindruck einer langsamen Reislamisierung der türkischen öffentlichen Meinung.
Für das zukünftige Gewicht der EU auf der Weltbühne, das im Vordergrund dieses Unterkapitels steht, sind nicht das Beitrittsinteresse und die Beitrittsfähigkeit weiterer Kandidaten von ausschlaggebender Bedeutung. Entscheidend sind vielmehr das Aufnahmevermögen und die Funktionsfähigkeit der EU selbst. Dazu bedarf es einer Klärung, die schon zu lange unterlassen worden ist.
Eine bereits lange vor der Finanz- und Wirtschaftskrise angelegte Schwäche der EU liegt in der sträflichen Unterlassung, ihr Budget im Rahmen der Finanziellen Vorausschau auf die Felder auszurichten, die für Europas Zukunft von zentraler Bedeutung sind. Statt der technologischen Entwicklung, den Hochschulen, der industriellen Modernisierung und der Infrastruktur eine klare Priorität einzuräumen, subventioniert die EU vor allem den Agrarsektor mit 56 Milliarden Euro oder fast 42 Prozent ihres Haushalts (2009). Dass in der Landwirtschaft nur noch 5 Prozent der Beschäftigten arbeiten und nur 1,7 Prozent des EU-weiten BIP erwirtschaftet werden, ist hinlänglich bekannt, aber offenbar unerheblich. Die Agrarsubventionen durchziehen die europäische Politik seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge von 1957. Seit der Gründung der EWG waren sie aus französischer Sicht von fast konstitutiver Bedeutung. Die Agrarfront hatte in Frankreich, mehr noch als bei uns, immer ein hohes Mobilisierungspotenzial, das die Politik vor jeder Kürzung der Subventionen zurückzucken ließ. Aber dass es auch nach über 50 Jahren nicht
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