Unterm Strich
teilweise deutlich über der Produktivitätsentwicklung dieser Länder und kamen als Bumerang mit einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit zurück. Deshalb sollte es im Stabilitäts- und Wachstumspakt eine Verpflichtung zu einer an der Produktivität orientierten Lohnpolitik einschließlich Inflationsausgleich geben.
Drittens: Mittelfristig sollte ein Europäischer Währungsfonds eingerichtet werden, der die Funktion des IWF für den Euroraum übernehmen kann. Das setzt die Änderung europäischer Verträge und ihrer Ratifizierungen in den nationalen Parlamenten voraus, eine Prozedur, die alle nur mit spitzen Fingern anfassen, weil möglicherweise in einzelnen Ländern auch noch Referenden mit Überraschungsergebnissen lauern könnten. Alles zutreffend. Aber eine solche Institution kann und muss spektakuläres Ad-hoc-Krisenmanagement ersetzen und Spekulanten sedieren.
Viertens: Mittel des EU-Haushaltes sollten in einem Anreizmechanismus auf die Länder mit den größten Eigenanstrengungen zur Angleichung ihrer Wettbewerbsfähigkeit konzentriert werden. Wenn weiterhin über 40 Prozent des EU-Budgets in die Subventionierung der Agrarwirtschaft fließen, ist Europa nicht mehr zu helfen. Die Wachstumsstrategie »Europa 2020« muss sehr viel verbindlicher sein als die Lissabon-Strategie. Mein nüchternes Urteil über die Perspektiven und Funktionen einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung bedeutet nicht, der Verbesserung der wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung in einem Quantensprung zu entsagen.
Fünftens: Wir Deutsche sollten uns darauf einstimmen, mit bilateralen Hilfen aufzuwarten, wenn es nötig sein sollte. Das Bild vom »Zahlmeister Europas«, das auch bei einem deutschen Finanzminister in Brüssel dazu führte, dass sich ihm gelegentlich die Nackenhaare sträubten, verbirgt zuallererst, dass Deutschland über die europäische Integration endlich eine für sich und seine Nachbarn glückliche und friedliche Entwicklung genommen hat. Das sollte uns sehr viel wert sein - in unserer exponierten geographischen Lage mit neun direkten Nachbarn, mit unserer aus europäischer Sicht kritischen Masse und eingedenk unserer fatalen historischen Rolle. Im Jahr 1947 geboren, gehöre ich nach der Generation meines Urgroßvaters (1870/71), meines Großvaters (1914/1918) und meines Vaters (1939/1945) der ersten Generation an, die nicht in einem europäischen Krieg verheizt worden ist. Dieses Glück und die politischen Beiträge von Nachkriegspolitikern in ganz Europa, denen wir das zu verdanken haben, werden in einem verebbenden historischen Bewusstsein als zu selbstverständlich »konsumiert«. Soweit und solange wir mit unseren politischen und physischen, also auch monetären Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung dieses Zustands beitragen können, liegt dies nicht zuletzt in unserem ureigenen Interesse. In ökonomischer Hinsicht gibt es kein anderes Land, das aus seinen finanziellen Beiträgen zur europäischen Integration so viel Positives erfahren hat wie Deutschland. Das war und ist gut investiertes Geld. Deshalb sollten wir auch zu bilateralen Hilfen bereit sein. Von bedingungslosen Überweisungen hat keiner geredet.
Nun sind einige Stimmen zu einem Strom angeschwollen, dem zufolge Deutschland durch seine zu starke Exportposition mit spiegelbildlichen Leistungsbilanzdefiziten in Ländern der Eurozone zu Ungleichgewichten beigetragen habe. In Anlehnung an das von Niall Ferguson kreierte Kunstgebilde »Chimerika« aus China und Amerika hat sein britischer Landsmann Martin Wolf, Kolumnist der Financial Times, das Konstrukt »Chirmany« aus der Taufe gehoben. Er fasst mit China und Germany die zwei stärksten Exportnationen der Welt zusammen, die mit ihrem Erfolg Spuren der Verwüstung in den Leistungs- und Handelsbilanzen anderer Länder hinterlassen und damit einen destabilisierenden Einfluss ausüben.
Meine französische Kollegin Christine Lagarde - eine Grande Dame in mehrfacher Hinsicht, mit französischem Esprit und angelsächsischem Humor - spitzte diese Kritik im März 2010 in einem Artikel zu, obwohl der zugespitzte Vorwurf eigentlich nicht zu ihrem Repertoire gehört und sie in unserem Zusammenspiel eher mir den undiplomatischen, aber dafür deutlichen Auftritt überließ. Der generelle Vorwurf lautet, dass Deutschland sich ähnlich wie China zu stark auf eine Exportstrategie verlege, Wettbewerbsvorteile durch ein Preisdumping - sprich: Lohnkostendruck - ergattert habe, deshalb anderen Ländern Exportmärkte
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