Unterm Strich
immer weiter expandierenden Dienstleistungssektors hat einigen Ländern keineswegs Vorteile beschert. Die Beispiele USA und Großbritannien, wo das produzierende Gewerbe inzwischen nur noch einen Anteil von 14 bis 15 Prozent am BIP ausmacht und stattdessen der Finanzsektor (plus Anwaltskanzleien) einen weit überproportionalen Stellenwert hat, habe ich bereits erwähnt. Ganz ähnlich ist die industrielle Basis in Frankreich geschmolzen. Natürlich sind auch in Deutschland Industriearbeitsplätze zuhauf verlorengegangen. Auch hier ist der Anteil des produzierenden Gewerbes am BIP gesunken - liegt aber immerhin noch bei 24 Prozent. Deutschland ist deshalb gut beraten, sich einem weiteren Prozess der Deindustrialisierung entgegenzustemmen.
Das setzt eine mit Industrieverbänden, Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräten abgestimmte Industriepolitik voraus. Sie pauschal als staatsinterventionistisch anzugreifen mag das gute Gefühl der ordnungspolitischen Rechtgläubigkeit vermitteln, nützt aber faktisch gar nichts. Zum einen betreiben alle nennenswerten globalen Mitspieler mehr oder minder verdeckt - beispielsweise über den Militärhaushalt oder Staatsunternehmen -, in einigen Fällen sachte, in anderen Fällen massiv, Industriepolitik. Deshalb sollten wir diese Frage nicht im Sinne deutscher Grundsatztreue zu einem Prinzip erheben, das wir wie eine Fahne vor uns hertragen, mit der wir dann an jedem Engpass hängen bleiben. Zum anderen ist Industriepolitik nicht automatisch mit Subventionen und spezifischen Staatseingriffen gleichzusetzen. Sie kann ordnungsrechtlich und regulatorisch Weichen stellen, Brücken zwischen Wissenschaftsbetrieb und Unternehmen bauen, bürokratische Hemmnisse beseitigen, als Ausfallbürge mit Garantien helfen, qualifikatorische Voraussetzungen verbessern und gegen unfaire Wettbewerbspraktiken schützen.
Der Fall Opel hat die Debatte über den Radius und die Ausrichtung von Industriepolitik in Deutschland aufgeladen und einen pragmatischen Zugang zu dieser Frage eher versperrt. Aus den nächtlichen Verhandlungen kurz vor Pfingsten 2009 stieg der Stern meines damaligen Wirtschaftsministerkollegen Karl-Theodor zu Guttenberg auf, der einsam gegen den Drachen des Staatsinterventionismus geritten war und das weiße Banner der Ordnungspolitik verteidigt hatte - nachdem sich eine christdemokratische Bundeskanzlerin und drei christdemokratische Ministerpräsidenten aus den Ländern auf die andere Seite geschlagen hatten. Die Sozis am Tisch gehörten sowieso zu den üblichen Verdächtigen. In einer Auszeit des Koalitionspartners wurde Karl-Theodor zu Guttenberg offenbar konzediert, dass er seine Bedenken gegen eine Unterstützung der Opel/Magna-Lösung aufrechterhalten und auch öffentlich ausdrücken könne, dass er aber die Beihilfe der Bundesregierung als zuständiger (!) Bundesminister nach vollen Kräften zu unterstützen habe. Das Rätsel, warum denn ein solcher politischer Widerspruch nicht konsequenterweise durch einen Rücktritt aufgelöst wurde, war keines. Die Union konnte es sich schlicht und einfach nicht leisten, vier Monate nach dem Rücktritt von Michael Glos und im Galopp unterwegs zur Bundestagswahl den nächsten Bundeswirtschaftsminister zu verlieren.
Als ich nach dem Ende der Verhandlungen am frühen Morgen des Pfingstsamstags 2009 Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kanzleramtsminister Thomas de Maiziere prophezeite, dass sie den politischen Gewinn aus der vermeintlichen Schwäche einer zwiespältigen Aufstellung einkassieren würden, reagierten sie entgeistert und gestanden offen, sie befürchteten das absolute Gegenteil. Mein Argument war, dass die Union sich zwar in einem Spagat auf dem Schwebebalken befinde, doch dadurch sei sie so gestreckt, dass sie jedem das Seine biete. Für die Gegner einer Opel-Unterstützung und marktwirtschaftliche Puristen richtete sie dann auch das Licht auf die Seite, wo Karl-Theodor zu Guttenberg eine gute Figur abgab. Für die Opel-Standorte Bochum, Eisenach, Rüsselsheim und Kaiserslautern und alle Opel-Anhänger fiel das Licht der Scheinwerfer dann auf die andere Seite, wo sich die einsatzfreudigen Ministerpräsidenten der CDU mit dem Segen der Bundeskanzlerin tummelten. Genauso kam es.
Der Gelackmeierte war die SPD, die nur einen Ausschnitt im Meinungsspektrum erreichte. Und der war viel kleiner, als wir uns vorgestellt hatten. Denn der überwiegende Teil des Publikums reagierte nicht wie erwartet als solidarische Arbeitnehmerschaft mit
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