Unterm Strich
Blindheit bezichtigt werde, will ich die Erhöhung der Mehrwertsteuer von Anfang 2007 um 3 Prozent in ihrem konsumdämpfenden Effekt nicht verdrängen, auch wenn davon 1 Prozent in die konsumstärkende Absenkung der Beiträge in die Arbeitslosenversicherung gegangen ist. Darüber hinaus sind Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel (insbesondere 2008) nicht zu vergessen, die den privaten Haushalten Kaufkraft entzogen und ihren Konsum damals bei guter Konjunktur beeinträchtigten.
Das Fazit, die Spielstärke auf den Exportmärkten wenigstens zu halten und die Bedingungen auf dem inländischen Markt deutlich zu verbessern, drängt sich auf. Letzteres lässt sich allerdings leichter formulieren und fordern als fehlerfrei und ohne kontraproduktive Nebeneffekte bewerkstelligen. Eine Reihe von Vorschlägen stößt dann auch auf zwiespältige Reaktionen. Eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes? Der ist schon jetzt über einen Rückzug des Normalverhältnisses und eine Zunahme prekärer oder atypischer Beschäftigung gespalten. Oder Steuersenkungen? Die geraten direkt in Kollision mit dem Konsolidierungsziel. Sie tragen in den unteren Einkommenskategorien, in denen kaum Steuern gezahlt werden, nicht zur Erhöhung des Konsums bei. Ein nennenswerter Teil - vor allem im oberen Einkommenssegment - landet in der Sparquote beziehungsweise in Kapitalanlagen. Oder eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungssektors? Mit welchen Folgen für den Arbeitsmarkt und das qualifikatorische Rüstzeug? Oder nachholende Lohnsteigerungen? Die sorgen zwar für zusätzliches Einkommen, treiben aber auch die Arbeitskosten in die Höhe, mit einem Druck auf die Arbeitsplätze. Insgesamt gilt Grossmans Misquote: »Complex problems have simple, easy-to-understand wrong answers.«
Ich bekenne mich zu folgenden Ansätzen, die nicht nur eindimensional auf eine Förderung der Binnennachfrage gerichtet sind und deshalb teilweise auch in anderen Zusammenhängen wiederkehren werden: Am Anfang steht eine Lohnentwicklung, die der Produktivitätsentwicklung folgt und einen Inflationsausgleich gewährt. Auch gesetzliche Mindestlöhne, wie es sie in 20 Mitgliedsstaaten der EU gibt, führen zu Einkommensverbesserungen und stärken damit die Kaufkraft. Wer den Spitzensatz der Einkommensteuer, die Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkünfte, die Erbschaftsteuer (auf private, nicht betriebliche Vermögen), Steuern auf Alkohol und Zigaretten erhöht und alle reduzierten Mehrwertsteuersätze abschafft (mit Ausnahme des Satzes auf Lebensmittel, Mieten und Kulturleistungen), der könnte die Sozialversicherungsabgaben mit einer erheblichen Schubkraft für den Massenkonsum senken.
Statt der Begünstigung von Sparanlagen und Finanzvermögen sollten Sachinvestitionen gefördert werden. Der Anreiz, Geld zu investieren, muss umgedreht werden: von Finanzanlagen und Immobilien auf Realinvestitionen. Deutschland weist seit Jahren eine der geringsten Investitionsquoten unter den OECD-Staaten auf. Die Ersparnis ist vornehmlich in Finanzanlagen geflossen, davon ein großer Teil über Kapitalexporte in andere Länder. Das mag denen gefallen. Bei uns hat das zu Investitionsdefiziten geführt. Professor Hans-Werner Sinn hat diese Entwicklung im Zusammenhang mit der Währungsunion und Eurokrise thematisiert. Mir scheinen seine Argumente stichhaltig, selbst wenn kurzfristige Konsequenzen schwerfallen, weil sie an die Wurzeln nicht zuletzt auch der Hilfspakete für Euroländer gehen.
Dagegen unterliegt das Thema der Entbürokratisierung einem unmittelbaren Zugriff. Nur wirkt es inzwischen wie ein Ladenhüter. Weil es arg strapaziert ist und schon zu häufig in Watte geboxt wurde, sollte es aber nicht in einer Mischung aus Resignation und Desinteresse beiseitegeschoben werden.
Der Länderbericht der OECD über Deutschland vom März 2010 analysiert, dass die großen Leistungsbilanzüberschüsse der vergangenen Jahre zu einem überwiegenden Teil auf eine zu geringe Investitionstätigkeit im Inland zurückzuführen sind. Wenn nun aber die Steuerbelastung in Deutschland, entgegen mancher Mythologisierung, nicht das zentrale Problem für inländische Investoren ist und sich wegen der ohnehin schon zu hohen Staatsverschuldung weitere Steuernachlässe verbieten, dann muss die Investitionsförderung - neben einer relativen Benachteiligung von Finanzanlagen und Kapitalexporten - über eine Entschlackung bürokratischer Auflagen geschehen. Der Standort Deutschland muss auf diesem
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