Unterm Strich
sind allein im Jahr 2009 rund 140 Banken zusammengebrochen und von der Einlagensicherung FDIC geschlossen worden. Briten und Amerikaner haben in höchstem Pragmatismus etwas getan, was hierzulande von ordnungspolitischen Puristen revolutionären Umtrieben gleichgesetzt wird: Sie haben Banken verstaatlicht oder unter ihre Fittiche genommen. Die Staatsschulden der G20-Staaten steigen bis zum Jahr 2015 wahrscheinlich um fast 40 Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist nach internationalen Berechnungsstandards in einigen Ländern wie den USA und Großbritannien stark (auf fast 10 beziehungsweise 8 Prozent) gestiegen, in Deutschland dank effektiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen sogar gesunken. Weite Teile der Welt pendeln zwischen kurzfristigen Deflationsängsten und mittelfristigen Inflationserwartungen.
Die Auswirkungen der Krise werden viel tiefer greifen und nachhaltiger sein, als die nackten Daten unmittelbar erkennen lassen. Wir haben es mit einer Schuldenkrise zu tun, die nicht nur ihren Ausgangspunkt in einer der höchstentwickelten Volkswirtschaften - den USA - nahm und von anderen entwickelten Industrieländern befeuert wurde, sondern deren zerstörerische Kraft auch weitgehend diesen Kreis der führenden Industrieländer betrifft. Das durchschnittliche Budgetdefizit der Industrieländer dürfte inzwischen bei über 7 Prozent, dasjenige der Schwellenländer bei unter 3 Prozent liegen. Daraus lässt sich die durchaus vertretbare These ableiten, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise das geopolitische Koordinatensystem verändern wird. Der Trend zu einer solchen Verschiebung im ökonomischen und politischen Kräftefeld war allerdings schon vor Beginn der Krise eingeleitet. Aber die Krise war und ist ein Treibsatz dieser Entwicklung.
Europa hat nach dem Maastrichter Vertrag von 1992 den Sprung von einer Währungsunion zu einer politischen Union nicht vollzogen. Weil eine Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik seiner Mitgliedsstaaten ausblieb, haben die Disparitäten innerhalb der Eurozone wie der EU insgesamt nicht ab-, sondern zugenommen. Über die Beitrittspolitik seit 1992, als die damalige Europäische Gemeinschaft noch aus zwölf Staaten bestand, ist dieses Europa inzwischen auf 27 Staaten, mit der Perspektive weiterer Aufnahmen, angewachsen, ohne dass es sich dafür die notwendigen institutionellen und verfahrenspolitischen Voraussetzungen geschaffen hat. Der Einsatz seiner finanziellen Mittel entspricht nicht den Prioritäten. Über die Finanzmarktregulierung, die Konjunkturförderung, den Defizitabbau und den Einfluss auf die Geldpolitik der EZB gehen die Meinungen und Interessen deutlich auseinander. Statt von einer zündenden Idee über das Europa der Zukunft mitgerissen zu werden, sind die Bürger frustriert von einem Europa der bürokratischen Detailregelungen unter Verletzung des Subsidiaritätsprinzips.
Unterschätzt wird, dass die Krise nicht nur ökonomische Kosten verursacht, sondern auch zahlreiche gesellschaftliche Implikationen hat. Wenn es stimmt, dass die Krise auch zu einem Umdenken geführt hat und die in manchen Etagen der Gesellschaft unverhohlen zum Ausdruck gebrachte »Bereichert euch!«-Mentalität tatsächlich im Schwinden begriffen ist - jedenfalls nicht mehr so offen und lautstark vertreten wird -, dann wäre das ein positiver Effekt.
Unzweifelhaft scheint mir indes, dass es eine tiefgehende Verstörung der Gesellschaft darüber gibt, was da in den letzten drei Jahren eigentlich passiert ist. Die These von der angeblich selbstregulierenden und zum Ausgleich tendierenden Kraft der Märkte ist falsifiziert worden. Exzesse, Spekulationen und sich selbst verstärkende Prozesse haben zwar nicht die Legitimation der Marktwirtschaft erschüttert. Aber das Vertrauen in dieses Ordnungssystem ist schwer beschädigt. Gleichzeitig sind die Erwartungen an eine ordnende und stabilisierende Hand des Staates beziehungsweise an die Koordinierungsfähigkeit souveräner Staaten, in internationalen Organisationen ein Regelwerk zu erstellen und durchzusetzen, gewachsen.
Das aber heißt: Antworten auf die Krise werden bei einer übergeordneten, demokratisch legitimierten Instanz gesucht. Gleichzeitig breitet sich aber der Eindruck aus, dass staatliche Instanzen und ihre Vertreter dazu nicht in der Lage sind, entweder, weil sie sich als handlungsunfähig erweisen - oder, weil der Taktstock längst nicht mehr in ihren Händen liegt. Eine entgrenzte, enthemmte Wirtschaftsmacht mit eigenen
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