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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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Lasten des Staatshaushalts mit Konsequenzen auf der Einnahme- und Ausgabenseite fällig, wird sich die gezügelte Empörung sowohl gegen »die« Banken als auch »die« Politik möglicherweise auch irrational entladen.
    Einige Bankenmanager haben den Knall offenbar immer noch nicht gehört. In den Prämientöpfen der Großbanken der Wall Street sollen für 2009 120 bis 140 Milliarden US-Dollar auf ihre Ausschüttung an Mitarbeiter gewartet haben. Weil an der Wall Street, im Unterschied zu den meisten anderen Branchen, Bonuszahlungen nicht aus dem Gewinn gezahlt werden, sondern aus dem Umsatz, kann es passieren, dass Finanzinstitute selbst dann Prämien ausschütten, wenn sie Verluste erwirtschaften. Falls sich diese Praxis und die Geschäftspraktiken, die in die Finanzkrise geführt haben, nicht durch ein proaktives Handeln des Bankensystems selbst ändern, wird es zu einer Auflehnung von »Main Street« gegen »Wall Street« kommen, und zwar nicht nur in den USA, sondern auch unter den gemäßigteren Verhältnissen in Europa.
    Der Chef der britischen Finanzaufsicht, Lord Adair Turner, soll laut Spiegel gesagt haben, dass die Krise nicht nur eine Krise einzelner Banken sei, sondern eine Krise des Denkens. Unsere Vorstellung, dass Preise wichtige Informationen transportieren, dass Märkte sich rational verhalten und sich im Falle von Irrationalität selbst korrigieren, sei in Frage gestellt. Nur wer sich diese bitteren Wahrheiten zumute, werde bei der Suche nach Lösungen erfolgreich sein können. Das Geschehen auf den Finanzmärkten hat sich in der Tat längst von der Wirklichkeit realwirtschaftlicher Vorgänge gelöst. Der Nominalwert von außerbörslich gehandelten Derivaten ist Mitte 2009 wieder auf über 600 Billionen US-Dollar gestiegen. Das weltweite Handelsvolumen an den Finanzmärkten soll bei ungefähr 4400 Billionen US-Dollar liegen und damit über 70-mal so groß sein wie die jährliche weltweite Wirtschaftsleistung. Bei solchen Abweichungen zwischen nominalen Geschäften auf den Finanzmärkten und der realen Wertschöpfung wird deutlich, dass es sich bei der gegenwärtigen Krise auch um eine Krise in den Köpfen handelt.
    Es geht um eine Richtungsänderung, durch die die Regeln und die Form unseres Wirtschaftens stärker auf gesellschaftliche Werte verpflichtet werden. Der Kampf gegen die Krise braucht mehr als nur die Hoffnung, darüber hinwegzukommen. Aus dieser Krise keine Lehren zu ziehen für die Zeit danach wäre nicht nur eine schreiende Dummheit, sondern auch blanker Zynismus gegenüber denjenigen, die zu den Verlierern gehören.
    In einer neuen Orientierung versucht man zu begreifen, was schiefgelaufen ist. Man versucht, so etwas wie einen Sinn im Scheitern zu erkennen. Es stellt sich die Frage, wozu das alles möglicherweise am Ende doch noch irgendwie gut sei, was wir durchleben. Der Sinn, den ich in diesem epochalen Ereignis sehe, ist die Erkenntnis des Irrsinns, der dazu geführt hat. Wenn die Zäsur eine Wende bewirkt zu einem nachhaltigeren Wirtschaften, zu einer größeren Verantwortungsbereitschaft von Eliten, zu einer Stärkung des politischen Mandats, zu einer Bändigung des Finanzkapitalismus durch Transparenz, Regulierung und Aufsicht sowie zu einer stärkeren europäischen Aufstellung und einer stabileren Weltwirtschaftsordnung, dann ist das aktuelle Geschehen zwar immer noch sehr schmerzhaft, aber immerhin der Beginn von etwas Besserem. Weniger als das sollte eine Zäsur nicht bewirken.
Zehn Tage, die mich bewegten
    Der Krisenverlauf ist minutiös ausgeleuchtet worden. Ich möchte mich im Folgenden auf Ereignisse konzentrieren, die ich persönlich zwischen dem Ausbruch der Krise im Sommer 2007 und meinem Ausscheiden als Bundesminister der Finanzen Ende Oktober 2009 als Schlüsselszenen wahrgenommen habe (einige davon decken sich natürlich mit den auch öffentlich registrierten Wendemarken). Ich habe die kalendarische Darstellung in Form eines Tagebuchs gewählt - nicht um zusätzliche Authentizität zu erzeugen, sondern weil der chronologische Abriss anhand meiner damaligen Stichworte und Notizen erkennen lässt, wie sehr wir uns alle in diesen Wochen und Monaten an den äußersten Rändern bewegten - auch am Rand unserer physischen und psychischen Belastbarkeit. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums und des Kanzleramts gebührt an dieser Stelle ein großes Kompliment für eine exzellente Arbeit.
     
    Samstag, 28. Juli 2007/Sonntag, 29. Juli 2007
    An

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