Unternehmen Wahnsinn
Lenkungsausschuss.
Un-Themen produzieren Un-Tote
Als wäre das alles nicht aufreibend und frustrierend genug, wird währenddessen noch eine andere Entwicklung deutlich, schleichend und schrecklich. Wer einem Un-Thema sein Gesicht und seine Kraft leiht, wird selber zur Un-Person. Man wechselt die Flurseite oder entschwindet in den Fahrstuhl, wenn ein Un-Projektleiter auftaucht, weil man nicht mit seinem Thema behelligt werden will, weil er einem ein schlechtes Gewissen macht, weil man sich nicht mit Verlierern zeigen will. Denn dass er nichts bewegen konnte, das ist ja nun offensichtlich. Kantinengespräche mit solchen, ehedem nahestehenden Kollegen sind mühsamer, man gibt wohlmeinende Klapse auf die Schulter, die kaum verhehlen, wie leid einem der Kollege tut. Möglicherweise sieht er auch tatsächlich erschöpft aus, seit er in dieses Projekt-Bermudadreieck geraten ist. Oder hat er am Ende tatsächlich schon sein Gesicht komplett verloren?
Sollte er jetzt auf die Idee kommen, das Projekt abzugeben – zu spät. Alle wissen Bescheid, was Sache ist, und werden sich hüten, das Ding anzufassen. Inzwischen gibt es 1000 Gründe, warum genau er, der Un-Projektleiter, hier dranbleiben muss. Keiner und keine hat ja inzwischen eine solche Fach(!)kompetenz aufzuweisen, außerdem hat er dieses ganze Netzwerk zum Thema aufgebaut. Er gerät immer weiter in den Abwärtssog; und da das Un-Thema manchmal über Jahre hin weder gelingen noch sterben darf, gibt es keine Erlösung und keinen Frieden für ihn.
Unheimlich: die schwarzen Organisationslöcher
Das Schicksal, zum Untoten zu werden, kann einen aber auch aus ganz anderen Gründen ereilen. Da gibt es zum Beispiel jene, die durch eine Restrukturierung plötzlich und unverschuldet in einem toten Winkel des Unternehmens gelandet sind; da, wo es nichts, gar nichts zu tun gibt. Hier muss noch nicht einmal ein Thema künstlich beatmet werden, hier gibt es weder Themen noch jemanden, der noch atmet. Kompetenz trifft auf das gähnende Nichts. Es gibt schwarze Löcher in Organisationen, und in diesen Krümmungen des Konzernuniversums ist es furchterregend still, da ist kein Lufthauch zu spüren. Nichts dringt über den Ereignishorizont 10 hinaus. Niemand, der seinen Blick dorthin richtet, kann etwas sehen. Wer hier (verzweifelt) versucht, Lärm oder Wind zu machen, hört kein fernes Echo hallen, keine Widerrede, nicht einmal mehr sein eigenes Krächzen und Husten. Das Loch hat ihn verschluckt. Er ist »übrig«, die Abteilung gekappt von den relevanten Schnittstellen, die Dienstleistung nicht mehr nötig, und keiner hat es überhaupt bemerkt. Nie werden die im grellen organisationalen Licht Zurückgebliebenen erfahren, dass es einfach nur Pech war. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Dass er oder sie gar nichts dafür konnte …
Anders verhält es sich mit den Strafversetzten. Sie werden mit voller Absicht zu Un-Projektleitern gemacht oder der negativen Masse anheim gegeben. Sie haben es sich entweder mit einer zentralen Schlüsselperson nachhaltig verdorben oder sich tatsächlich etwas zuschulden kommen lassen, das aber nicht öffentlich werden darf. Deswegen kann man sie auch nicht entlassen.
Dann gibt es noch diejenigen, die einen Schönheitsfehler haben, der sie für die Bühnenscheinwerfer aktuell unbrauchbar macht. Sie haben zum Beispiel aufs falsche Pferd gesetzt – und dieses ist gerade hochkant aus der Firma galoppiert bzw. geflogen, hat sie aber leider nicht mitgenommen.
Nicht zuletzt sind da jene, die sich freiwillig in die Zwischenwelten der Organisation abmelden – etwa weil sie sich erholen müssen von einem Projektdesaster, mit dem sie die vergangenen drei Lebensjahre verbrannt haben. Es sind Beschädigte wie Betrüger, Experten wie Exilanten, Kompetente wie Arglose, vormals Engagierte wie hinterher Klügere, die sich zeitweise oder auf Dauer an diesen offiziell namenlosen Orten im Unternehmen wiederfinden. Sie alle teilen das gleiche Schicksal: Sie haben nichts zu tun – und dürfen gerade deshalb nie stillstehen.
10 »Ereignishorizont« nennt der Physiker in der allgemeinen Relativitätstheorie eine Grenzfläche in der Raumzeit. Für diese gilt, dass Ereignisse jenseits dieses Horizontes prinzipiell für Beobachter nicht sichtbar sind, die sich diesseits befinden.
Teil 2: Diagnosen
Hier geht es um Diagnosen. Also um die tieferen Erklärungsversuche für die in Teil 1 beschriebenen Phänomene. Das Wort Diag-
nose stammt vom griechischen »diagignoskein«
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