Unternehmen Wahnsinn
»Wir« priorisiere ich im Zweifelsfall? Das Konsumenten-Wir? Das Europäer-Wir? Das Professionskollegen-Wir?
Solange darüber nicht geredet wird, bleibt die Debatte um das richtige Führungspersonal ein Ablenkungsmanöver, eine Sehnsuchtsprojektion oder auch nur eine unterhaltsame Casting-Show. Und nicht zuletzt eine unnötige Belastung für die klugen, guten Führungskräfte, die ihren Job mit ausgeprägtem Bindungsbewusstsein machen.
21 So die 2010 erschienene polemische Abrechnung des ehemaligen Daimler-Managers Edzard Reuter mit dem Titel Stunde der Heuchler. Wie Manager und Politiker uns zum Narren halten . Econ 2010.
22 Peter Sloterdijk: Du musst Dein Leben ändern . Suhrkamp 2009.
23 In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 20. Juni 2010.
24 Im Original: How to write a damn good novel . St. Martin’s Press 1987.
25 Barbara Kellermann: Followership. How Followers Are Creating Change and Changing Leaders. Mcgraw Hill 2008.
26 In Brand eins Juni 2009.
Diagnose 4: Change-Alarm und globalisierte Mehrwertvernichtung
Untersucht wird u.a.: warum Globalisierung oft nur Turbo-Kapitalismus meint; ob Macht das Privileg ist, nicht lernen zu müssen; und wie Change und Mehrwertvernichtung zusammenhängen.
»Globalisierung« wird wie ein Krieg erklärt. Der Begriff knallt wie ein Schuss, der alle aufweckt und in Alarmbereitschaft versetzt. Schluss mit dem gemütlichen Vorsichhinarbeiten der alten Ära – jetzt geht es ans Attackieren und natürlich auch darum, sich gegen heranrückende Feinde zu wehren. Aufrüstung ist angesagt. Oder zumindest ein Sich-fit-Machen für Stürme und Attacken. »Die Globalisierung« kann aber noch mehr. Sie dient im Grunde als ultimative Erklärung für alle Prozesse, die unverständlich, komplex, unangenehm, gefährlich, unvermeidbar, notwendig etc. sind. Und sie macht »Change« dringend nötig.
»Change« – Veränderung – ist das eigentlich unfassbar allgemeine, triviale Patentrezept angesichts der ebenfalls unfassbar allgemeinen, trivialen Hyper-Diagnose »Globalisierung«: eine Fitnesskur, ohne die keine Gesundung, ja nicht einmal das Überleben möglich ist. Der erste von John P. Kotters legendären acht Schritten zum Change-Erfolg heißt denn auch: das Bewusstsein für Dringlichkeit schaffen. 27 Nachdem die Globalisierung erklärt wurde, muss mobilisiert werden.
Offiziell geht es bei diesen Changes immer um das Überleben der Organisation, um die Erhöhung der Effizienz, das Ausschöpfen von Synergiepotenzialen und gern auch um die Veränderungs- und Lernbereitschaft an sich. Change steht für Dynamik, Vorwärtsgerichtetheit, Proaktivität – und ist Vorzeigevokabel für weit mehr als nur eine Reorganisationsmaßnahme. Sie behauptet Offenheit für Neues, Innovationshunger und ein grundsätzliches Sich-infrage-Stellen. Sie wird zur Chiffre des modernen, beweglichen, aufgeschlossenen Menschen. Der Change wird zu einer Haltung, die man einfordert. So weit das Wunschdenken.
Freiheit, nicht für alle!
Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: Was genau ist eigentlich mit »Globalisierung« gemeint? Ein freier und liberalisierter Welthandel? Den gibt es immer noch nicht, auch wenn das behauptet wird. Die Internationalisierung des Handels? Die gibt es sehr wohl, und zwar schon seit der Antike. Schon damals hatte sich der Warenverkehr (griechische Schiffe im Mittelmeer) über die staatlichen Grenzen hinaus gewagt und als Schrittmacher für Kultur und Innovation etabliert. Es folgten die Hanse im Mittelalter und die vielen anderen weltweiten Güterbewegungen, ob Seidentransport aus China oder Wolleeinfuhr aus England.
Mit der modernen Verringerung von Transport- und Kommunikationskosten hat sich diese Internationalisierung noch einmal stark dynamisiert. Eine Binse, aber wahr: Noch nie war die Welt so vernetzt – ökonomisch, ökologisch, elektronisch. Und natürlich sind freie Waren-, Kapital- und Informationsflüsse sehr zu begrüßen, denn davon profitieren faktisch viele. Das eigentlich Interessante ist aber: Seit »Globalisierung« als politisch-ökonomischer Begriff verwendet wird – seit etwa den 1980er-Jahren – bezeichnet er weniger die Internationalisierung der Wirtschaft, sondern vielmehr das, was der ehemalige US-Minister für Arbeit, Robert Reich, den »Super-Kapitalismus« genannt hat: eine aggressive Zunahme des Wettbewerbs; einen immensen Konzentrationsprozess von Macht und Kapital. Im Namen der »Globalisierung« wird als Naturgesetz postuliert,
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