Unternehmen Wahnsinn
Skeptiker des einen oder anderen Veränderungsvorhabens sehen sich dabei immer dem grundsätzlichen Verdacht ausgesetzt, Lernverweigerer und Ewiggestrige zu sein. Mit denen lässt sich kein Staat machen, kein Neuland erobern. Dabei handelt es sich oft nur um blinden Aktionismus. Bevor sich – durch Changeprozesse – ein neues Gleichgewicht ergeben oder eine neue Ordnung bilden kann, wird oft einfach weiter verändert. Der Effekt ist wie der auf Vögel nach einem Schuss: Die Vögel auf der Stromleitung flattern auf und fliegen panisch umher, dann beruhigen sie sich und ordnen sich nach und nach wieder neu, dann kommt der nächste Schuss, mit demselben Effekt. Nach einer Reihe von Schüssen merkt allerdings auch der schrägste oder ängstlichste Vogel, dass sich die Aufregung nicht lohnt; und er lernt, dass es ausreicht, leicht mit den Flügeln zu schlagen, hyperaktiv zu tun und sich dann bald wieder auf die Leitung zu setzen. Nur die ganz neuen Vögel – die die Schuss-Situation erstmals erleben – flattern länger umher. So bewirkt ein Change oft also gerade keine Veränderung, sondern ist reine Pseudo-Aktivität. Dahinter stecken Passivität, eine große Systemträgheit und die Unfähigkeit, sich aus alten Mustern zu lösen.
Willkommen in der Mehrwertvernichtung
Und was bedeuten die veranlassten Veränderungen eigentlich ökonomisch für ein Unternehmen? Bringen die angestoßenen Reorganisationsmaßnahmen je den behaupteten wirtschaftlichen Mehrwert? Davon abgesehen, dass das natürlich so pauschal nicht zu sagen ist, sondern es immer auf den Einzelfall ankommt – wie gesagt, es versteckt sich ja alles Mögliche und Unmögliche hinter dem Terminus »Change« –, wollen wir drei Mehrwertvernichtungskategorien näher beleuchten. Man findet sie in vielen Unternehmen und sie stehen in seltsamem Widerspruch zu den gern behaupteten Segnungen der »Globalisierung«, als da beispielsweise wären: die Welt wächst zusammen, alle profitieren, nur keine Berührungsscheu.
Mehrwertvernichtungskategorie 1: Schnittmengenzerstörung
Mehrwert kann nur entstehen, wenn sich zwei Interessenmengen überschneiden. Zwischen einem Kunden mit einem kaputten Motorrad und einem Mechaniker gibt es prinzipiell eine Schnittmenge: Der Kunde will sein kaputtes Moped geheilt bekommen, weil er die Maschine liebt; der Techniker will ein technisches Problem lösen, weil er es liebt, technische Probleme zu lösen. So entsteht Mehrwert. Zwischen einem Mitarbeiter in einem Callcenter
– dieser braucht viele und kurze Telefonate – und dem Kunden, der Hilfe, Verständnis und Erklärung braucht, gibt es diese Schnittmenge nicht mehr. Beide strengen sich sehr an und sind abends vollkommen erschöpft. Der Schnittstellenmehrwert aber ist auf der Strecke geblieben. Callcenter sind inzwischen vielfach die einzige direkte Kontaktmöglichkeit zwischen Kunden und Unternehmen: Struktur gewordene Missverständnisse.
Viele Reorganisationen scheinen sich dieser Schnittmengenvernichtung verschrieben zu haben: Es gibt dauernd wechselnde Ansprechpartner, wechselnde Problemlagen, wechselnde Kollegen. Da ist oder entsteht kein »gemeinsames Drittes«, das jedem Prozess- oder Projektbeteiligten ein Anliegen ist und das deswegen von allen Beteiligten vorangebracht wird. Dieses »Dritte« ist die klassische Schnittmenge der Einzelinteressen. In der Regel ist es inzwischen einfach so: zwei Parteien haben zwei Anliegen. Ohne Schnittmenge. Parallel versuchen sie, den anderen für ihr Anliegen zu funktionalisieren. Gewonnen hat, wer sein Anliegen besser durchsetzt. Mehrwertschädigend an dieser neuen Grundkonstellation ist insbesondere, dass beide Parteien einander nicht über den Weg trauen, weil sie an ein gemeinsames Interesse ohnehin schon lange nicht mehr glauben. Viel Energie und Kraft wird deshalb statt in die Prozess- oder Produktentwicklung in Sicherheitsmaßnahmen zur Manipulationsabwehr gesteckt. Eine fatale Verpuffung von Kreativität.
Mehrwertvernichtungskategorie 2: Kontexttilgung
Kontexttilgung meint: Abläufe werden so designt, dass sie in Kalkutta ebenso funktionieren sollen wie in London. Das hat immense Kosten zur Folge. Zunächst kostet es Mühe, Nerven und viel Geld, die Abläufe so zu standardisieren oder auch zu nivellieren, dass sie weltweit gelten können. Dann kostet es ebenso viel an Mühe, Nerven und Geld, die solchermaßen sterilen Prozessketten wieder zu rekontextualisieren, sprich: in den lokalen Zusammenhang (von Kalkutta oder
Weitere Kostenlose Bücher