Unterwegs im Namen des Herrn
her.
»Tranquillo«, sage ich. »Piano. Puoi andare con noi!«
Er fragt mich, wann wir fahren würden. Mir fällt kurioserweise nur »mox« ein, aber wenn ich mein Latein auspacke, hält er mich vermutlich für einen Priesterseminaristen.
»Dopo«, sage ich. »Soon. Dieci minuti.«
Jetzt will er viele weitere Dinge von mir wissen. Ich verstehe kein Wort und biete ihm etwas zu trinken an. Zuerst nickt er, dann bedeutet er mir, er wolle nur schnell nachsehen, ob sie vielleicht hinter der nächsten Kurve haltgemacht hätten. Sekunden darauf sieht man einen kleinen dicken Italiener über den kochenden Asphalt talwärts wetzen.
Mittlerweile ist die Hälfte unserer Gruppe versammelt. Ingo zündet sich eine Zigarette an und erzählt mir, dass Hannes der Sohn der schwarzhaarigen Frau aus unserer Gruppe ist, die mir schon in Wien als einigermaßen säkulare Erscheinung aufgefallen war.
»Was? Im Ernst?«
»Und sie hat ihn seit zwei Jahren nicht gesehen.«
Ich kann es kaum glauben. Dieser Kerl, der so alt wirkt, dass ich mir durchaus vorstellen könnte, mit ihm von Mann zu Mann auf ein Bier zu gehen, ist der Sohn der Frau, die wiederum so jung wirkt, dass ich mir durchaus vorstellen könnte, mit ihr ins Bett zu gehen. Jetzt erklären sich allerdings die Begrüßungsszenen.
Der Reiseleiter wackelt herbei und pfeift. Ich steige ein und erstaune, als ich auf der anderen Seite des Ganges, wonormalerweise eine der jungen Fundamentalistinnen vor sich hin starrt, den Italiener sitzen sehe. Er nickt mir zu und sagt auf Englisch, dass er seine Leute nicht mehr erwischt hat. Ich rätsle, wann und wo er hergekommen ist. Vielleicht ein Fall von Bilokation.
Der Reiseleiter baut sich vor uns auf. Ich stelle ihm unseren neuen Passagier vor. Der Reiseleiter schaut misstrauisch drein. Ich habe das Gefühl, er denkt, ich wolle ihm da irgendeinen Halunken unterjubeln, mit dem ich gleich den ganzen Bus ausrauben werde. Dann aber sagt er, es sei okay, der Italiener dürfe mitfahren. Auf ein Begrüßungslächeln muss der Gast allerdings verzichten.
6. Kapitel
Spontanheilungen – Mittagessen ohne Tischgebet – Kampf um den Hausschlüssel – Gespräch mit dem Tennislehrer – Annalinda Antilopa und das schmutzige Kleid der Gottesmutter – »Preise das Leiden!« – Der Löffeldieb – Zur Messe!
Etwa auf halber Strecke nimmt der Reiseleiter wieder das Mikrophon. Er steht da und blickt wackelnd über uns hinweg.
»Wenn wir nachher das Hotel beziehen, denkts daran, dass man nur bis 23 Uhr ins Hotel reinkommt. Ein paar Minuten später ist auch noch kein Problem, der Herr Bozo wartet immer noch ein bissl, aber dann geht er schlafen. Einmal hat einer von meinen Pilgern das vergessen und ist erst um eins in der Nacht gekommen. Wie ich um fünf aufstehe, sehe ich ihn draußen auf einem Gartensessel sitzen. Er wollts gar nicht sagen, aber ich hab ihn angeredet, und da hat ers zugegeben. Also vergessts das nicht!«
Ich drehe mich zu Ingo um, dem steht der Mund offen, und die Wange zuckt.
»Und morgen gehen wir auf den Kreuzberg. Da ist Abfahrt um drei Uhr in der Früh. Zum Frühstück sind wir wieder da.«
Kreuzberg, der interessiert mich eigentlich, ich glaube, ich möchte mitgehen. Einmal im Jahr kann man schon um drei Uhr früh aufstehen. Notfalls gehe ich eben gar nichtschlafen. Ich kann mich nur im Augenblick nicht weiter mit solchen Details auseinandersetzen, weil unser Gefängnishotel durch meine Gedanken geistert.
»Das ist jetzt drei Jahre her«, sagt der Reiseleiter. »Ein Manager, noch nicht alt, hat von den Ärzten die Diagnose bekommen, dass er nur mehr einen Monat zu leben hat. Er hat sich gefragt, was er mit diesem Monat anfangen will, und ist auf die Idee gekommen, herunterzufahren. Am dritten Tag ist er am Morgen auf den Kreuzberg gestiegen. Er geht halt von Station zu Station, und bei der zwölften Station fällt er plötzlich auf die Knie, und wie von allein kann er endlich seinem Vater verzeihen, dass der in seiner Kindheit nie für ihn da war. Und von dem Zeitpunkt an war er befreit. Er ist nach Hause gefahren, zum Arzt gegangen, und wisst ihr was? Er war geheilt.«
»Jööööh!«
»Wow!«
»Wahnsinn!«
»Und so halte ich es auch. Ich verzeihe jedem. Man kann gekränkt werden, man kann beleidigt werden, aber seit ich jedem verzeihe, bin ich ein freier Mensch.«
Den Eindruck macht er auf mich nicht unbedingt, aber gut. Ich trinke einen halben Liter Mineralwasser aus und schäle eine Orange, zu der ich mir
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