Unterwegs im Namen des Herrn
des Reiseleiters.
Nach den Zeugnissen werden wir gebeten, Fragen zu stellen. Ich zeige als erster auf und will wissen, wo sich die beiden in zehn Jahren sehen. Hannes sagt, er hätte so viel Chaos hinter sich, er sei froh, wenn er seinen Alltag meistern könne, und was in zehn Jahren sei, könne er sich nicht vorstellen. Fred sagt kurz und bündig, er wolle Pfarrer werden.
»Jööööh!«, kommt von rechts. Einige applaudieren.
»Wird den Drogensüchtigen, die hierherkommen, irgendeine Art von begleitender Therapie angeboten?«, fragt Ingo.
»Nein!«, sagt Hannes. »Jeder Neue! Bekommt einen Engel! Das ist einer aus der Gemeinde! Der sich vierundzwanzig Stunden am Tag! Um ihn kümmert! Er hilft dem Neuen! Sich zurechtzufinden! Er hilft ihm! Sich an dieses Leben zu gewöhnen! Es gibt das Gebet! Und unsere Arbeit! Die Hilfe! Kommt aus ihm selbst! Und deshalb! Kommt sie von Gott!«
Der Reiseleiter weiß zu all diesen Dingen ebenfalls viel zu sagen. Am liebsten würde ich ihm den Mund zubinden.Die intelligente Frau neben Ingo fragt, wie hoch die Rückfallquote bei denen liegt, die nach einigen Jahren die Gemeinde wieder verlassen. Verschwindend gering, behauptet Fred. Praktisch null. Hannes ist da etwas vorsichtiger.
»Wenn ich! Mit dem Motorrad unterwegs bin! Und da ist Freiheit! Und der Wind! Da kann es schon sein! Dass ich etwas spüre! Aber dann! Muss ich sofort! Runter von der Autobahn! Und mir eine Kirche suchen! In der Kirche! Finde ich dann zurück! Ich muss immer! Bei Gott bleiben!«
»Wie bringt man junge Leute dazu, die Bibel zu lesen?«, will eine der zwei Bäuerinnen mit den Seniorenhandys wissen.
Fred setzt wieder sein heiliges Gesicht auf, aber Hannes antwortet, er hätte früher keinerlei Ratschläge beherzigt.
»Der Betreffende! Muss selbst kommen!«
Die Antwort befriedigt die Bäuerin nicht, sie hätte wohl gern eine andere gehört. Sie rutscht auf ihrem Stuhl und sagt etwas zu ihrer Nachbarin.
Allmählich verebbt das Interesse der Pilger, und nun schleppen Hannes und Fred ihren Feldaltar oder etwas Ähnliches an, ich weiß nicht, was sie uns da stolz präsentieren, es sieht aus wie ein unter Drogeneinfluss fabriziertes Gemälde, bloß erkenne ich darauf nicht viel. Alle fotografieren. Zum Schluss gibt es Applaus, und dann wird noch einmal gebetet.
Ich springe auf und verziehe mich Richtung Haupthaus. Nachdem ich die leere Dose losgeworden bin, betrete ich den Souvenirshop. Zunächst ist es darin ganz ruhig, doch als mir weitere Pilger folgen, drückt der bärtige junge Mann hinter der Kasse einen Knopf, und es ertönt religiöse Flötenmusik aus verborgenen Boxen.
In einer Ecke stoße ich auf dieses AIDS -Tagebuch, es ist in allen wichtigen Pilgersprachen erhältlich. Daneben stehen weitere Erbauungsbücher, auch T-Shirts sehe ich, doch vor allem wird hier natürlich Gospaschmuck verkauft. Ein Gipsbild nehme ich in die Hand und betrachte es genauer, wobei ich feststelle, dass jemand mit dem Fingernagel unter dem Auge der Gospa eine Delle eingeritzt hat, die wie eine Träne aussieht. Vielleicht bin ich paranoid, aber ich könnte darauf wetten, dass das Kalkül ist. Man ersteht die Gospa, und zu Hause bemerkt man: Sie weint. Ein Wunder! Zumindest ein göttliches Zeichen.
Ich kaufe natürlich sofort diese Gipsgospa, und einen besonders schwulen Jesus nehme ich auch noch dazu. Der Typ an der Kasse gibt mir einen frommen Wunsch mit auf den Weg. Ich nicke ihm zu und mache, dass ich wegkomme, die Atmosphäre auf dem Gelände deprimiert mich zunehmend.
Beim Autobus steht Rudi und raucht. Er sieht müde aus. Ich kaufe ihm eine Flasche kaltes Wasser ab und betrachte die Gospa-Andenken, die in den offenen Kofferräumen der parkenden Autos angeboten werden. Die Besitzer stehen daneben, rauchen, einer sitzt auf der Stoßstange und schneidet sich die Zehennägel. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen aus unserer Gruppe, das mit seiner Oma unterwegs ist, will einen Rosenkranz. Der Verkäufer ist unrasiert und hat eine Stimme wie ein Höhlenmensch.
Der italienische Pilgerbus, der hinter unserem Bus geparkt hatte, brummt überlaut auf, stößt eine stinkende schwarze Wolke aus und fährt davon. Kurz darauf kommt ein kleiner dicker Italiener in meinem Alter aus dem Tor der Gemeinde gelaufen. Er hetzt in Panik herum, schließlichfragt er mich, ob ich gesehen hätte, wie ein Bus wegfährt. Ich hatte in der Schule vier Jahre Italienisch, aber erstens habe ich nie aufgepasst, und zweitens ist das lange
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