Unterwegs im Namen des Herrn
werden.
»Ihr habts gar nicht gebettet?«
Der Reiseleiter wirft mir einen durchdringenden Blick zu, als hielte er mich für den Rädelsführer dieser Unbotmäßigkeit. Ich kann mich nicht zurückhalten, es rutscht aus mir heraus:
»Ich habe noch eigens gefragt …«
Der Reiseleiter wackelt betreten mit dem Kopf und nimmt neben dem Liliputaner Platz. Ob er betet oder nicht, sehe ich nicht, weil die Psychiaterin mich in ihr Gespräch mit dem Postboten verwickelt.
Auf den Reiseleiter werde ich erst nach dem Essen wieder aufmerksam. Es scheint um seine morgige Vertretung zu gehen, die deshalb vonnöten ist, weil er aus Organisationsgründennicht mit auf den Kreuzberg gehen und nur die Wanderung auf den Erscheinungsberg am Tag darauf mitmachen kann. An jeder Station des Kreuzweges muss gebetet oder gesungen werden, und dafür ist eine Leitung zuständig. Mir wird ein wenig mulmig zumute, als ich höre, dass diese Aufgabe die intelligente Psychiaterin neben mir übernommen hat.
»Da kriegt sie mein grünes Buch«, sagt der Reiseleiter. »Mit diesem Buch fahre ich seit Jahrzehnten herum, das habe ich immer dabei, daraus liest sie vor.« Er macht eine Kunstpause.
»Einmal konnt ich auch nicht mitgehen, da habe ich das Buch an einen Mann übergeben. Plötzlich merke ich, er zittert. Ich greif ihm auf den Arm und frage: Wieso zitterst du so? Und er haltet das Buch in der Hand hoch und sagt: Ich trau mir das nicht zu! Dann habe ich ihm meine Lesebrille gegeben – und das Zittern war weg!«
Er schaut triumphierend in die Runde. Komischerweise lachen alle.
Oben besorge ich mir an der Theke einen Espresso und setze mich damit vor das Haus in den Schatten. Bald darauf folgen die Raucher. Wir tauschen uns über die Frage aus, wann wohl die Zimmer bezogen werden können. Da bis dahin offenbar noch etwas Zeit bleibt, gehe ich Getränke einkaufen. Als ich zurückkomme, sind meine Mitpilger gerade dabei, ihr Gepäck aus dem Bus zu holen. Ich lade mir meine Tüten und den Rucksack auf und ziehe den Koffer hinter mir her ins Hotel, wo wir uns alle schwitzend vor der Rezeption versammeln.
An der Wand entdecke ich einen Infoständer. Er enthältallerhand fotokopierte Zettel und Broschüren, die auf das segensreiche Wirken unseres Reiseleiters hinweisen. Überschrieben sind sie mit Titeln wie »In den Kindern Jesus begegnen«, »Wenn die Gospa ruft«, »Der Auftrag Gottes – mein Auftrag?«, und darunter findet sich überall das Logo des Reisebüros. Einen ganzen Stoß davon stopfe ich in meine Tasche, einige auch in meine Hosentasche. Ich schiebe meinen Koffer nach vorne Richtung Rezeption.
Ingo winkt mir und ahmt per Handzeichen das Aufsperren einer Tür nach. Ich nicke. Dennoch ist er offenkundig nervös und drängt sich durch die Menge zu mir.
»Wir müssen den Schlüssel kriegen!«
»Ich mache das schon«, sage ich. »Geh rauchen.«
Er bleibt jedoch, und natürlich steht sofort wieder der Kappenmann neben ihm.
»Gehst du morgen auf den Kreuzberg?«, fragt der Alte.
»Na, ganz bestimmt nicht«, sagt Ingo. »Ich gehe auf keinen dieser Berge.«
Der Kappenmann zuckt zusammen. Er hebt die Hand, sein Zeigefinger ist ausgestreckt. »Das darfst du nicht! Wer nach Medjugorje fährt und auf keinen der Berge geht, der STOLPERT IM LEBEN – UND FALLT !«
Im Gegensatz zum erschauernden Postboten neben ihm zeigt sich Ingo mäßig beeindruckt, wiederholt nur, dass er keine Sekunde lang auch nur einen Gedanken daran verschwenden würde, morgens um zwei Uhr aufzustehen und dann sieben Stunden lang wandern zu gehen. Der Kappenmann ist sichtlich entsetzt und murmelt mehrmals etwas vor sich hin.
Minuten vergehen. Wir stehen zusammengepfercht da und schwitzen. Endlich zeigen sich der Hotelchef und derReiseleiter. Ich schiebe mich etwas näher an die beiden heran. Sie stecken ihre Köpfe über dem Zimmerplan zusammen. Als die Zimmerverteilung beginnt, wende ich mich zunächst an den Reiseleiter.
»Wir hätten da eine Frage … Gibt es vielleicht doch einen zweiten Schlüssel für die Eingangstür des Hotels? Wir wissen nämlich schon jetzt, dass …«
»Da ist der Chef, ihn musst fragen!«, sagt der Reiseleiter, ohne mich anzusehen, und deutet hinter sich, wo der andere alte Herr noch über seinem Plan brütet.
Ich ignoriere die schroffe Antwort und trete an den Hotelchef heran, von dem ich schon weiß, dass er Deutsch spricht.
»Wir hätten da eine Frage … Wir haben gehört, es gibt für Hotelgäste keinen Schlüssel zum
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