Unterwegs in der Weltgeschichte
Gott und die Welt verleite, pflegte er zu antworten: »Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir!«
Das gottgegebene Recht, nach der MaÃgabe des eigenen Verstandes zu handeln, ist in Kants Augen zugleich eine Pflicht. In seiner kleinen Broschüre »Was ist Aufklärung?« appelliert er: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Und mehr noch: Den Denkverweigerern, den faulen Couch-Potatoes, den Unterhaltungs-Berieselten, den Eventkultur-Fremdbestimmten gibt Kant eine eigene tiefe Schuld an ihrem unwürdigen Zustand, denn: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.«
Solche Sätze sind es, die die Welt in Bewegung bringen. Und für die Neuerer der Zeit war es eine wunderbare VerheiÃung, im Instrument des Verstandes endlich das perfekte Mittel der gesellschaftlichen Verständigung gefunden zu haben. Denn wenn nach den Gesetzen der Vernunft 1 + 1 = 2 ist, dann liegt der Gedanke nah, dass auch alle Fragen und Probleme der Welt auf ebendieser Grundlage lösbar sind. Würde mit der konsequenten Benutzung des Verstandes die Menschheit nicht eine neue Stufe des Daseins erklimmen? Eine neue Welt würde entstehen, in der sich alle Widersprüche und Streitereien auflösen könnten und jeder Aberglaube und jeder Glaubenskrieg abgeschafft sei. Wo die alten Zöpfe überkommener Irrtümer, die den Fortschritt behinderten, ein für alle Mal abgeschnitten wären.
Nie mehr würde es so irrationale Dinge wie Hexenverbrennungen geben, denen im 17. Jahrhundert allein in Deutschland noch über 100 000 vermeintliche Hexen und Hexer zum Opfer gefallen waren. Nie mehr so furchtbare Gewaltexzesse wie den DreiÃigjährigen Krieg. Nach dem Gesetz des Verstandes würde eine einzige gesellschaftliche Regel Frieden und Gerechtigkeit stiften, der sogenannte kategorische Imperativ: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Einfacher gesagt: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!«
Kant geht so weit, dass er den Willen jedes Menschen, nach dieser Regel zu leben, als »Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen« ausmacht â und sich darin offenbar täuschen sollte, wie uns der weitere Verlauf der Geschichte lehrt. Gut hundert Jahre nach Kant erkannte der Psychoanalytiker und Kulturpessimist Sigmund Freud (1856 â1939) nüchtern, dass leider die menschliche Vernunft nur den geringsten Teil unserer Handlungen bestimmt und dass es vielmehr das Unbewusste sei, das die Menschen unter einer eierschalendünnen Kulturhülle zu den irrationalsten Handlungen verleite. Der Zukunftsoptimismus der frühen Aufklärer war damit in sein Gegenteil verkehrt. Und in der Spätphase der kapitalistischen Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts gerät allmählich auch der zweite Imperativ Kants in Vergessenheit: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloà als Mittel brauchst.« Frei auf die moderne Arbeitswelt übertragen: »Nicht der Mensch ist für die Arbeit da, sondern die Arbeit für den Menschen!«
Hat unsere heutige, ökonomisch geprägte Lebenswelt diesen Imperativ wirklich noch auf der Rechnung? So würde Kant uns wohl fragen, nachdem im 20. Jahrhundert die Entdeckung des Menschen als Konsumenten viele wesentliche Werte zur Seite geschoben hat.
Die Umsetzung des kantschen Imperativs in der politischen Wirklichkeit der Neuzeit klappt da schon besser: »Nicht die Menschen sind für ihre Regierung da, sondern die Regierung für die Menschen!« Gewiss, von dieser Forderung lebt eine Demokratie. Und das war es ja auch, was bereits der groÃe französische Denker Voltaire (1694 â1778) bei seinem Aufenthalt am preuÃischen Königshof Friedrich dem GroÃen immer wieder eingeschärft hatte.
Es war eine berauschende Entdeckung neuer gesellschaftlicher Werte wie Toleranz und Menschenwürde. Mit der Befreiung vom Aberglauben sowie von morschen Gesetzen und ungerechten Vorrechten des Mittelalters fand zugleich eine enorme Aufwertung des Individuums statt, die durchaus mit dem Kern der christlichen Botschaft harmoniert: mit der Idee der Nächstenliebe. Nächstenliebe kommt für Aufklärer einer
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