Unterwegs in der Weltgeschichte
vernünftigen Selbstverwirklichung des freien Individuums gleich, dessen natürliches Bedürfnis es sei, seine Gemeinschaft mit anderen Menschen glücklich zu verwirklichen.
Trotz dieser Nähe zur Botschaft des Christentums hatte sich aber die Kirche als fortschrittshemmende Institution in den Augen der Aufklärer im Laufe der Jahrhunderte verdächtig gemacht. Und tatsächlich verharrt nach dem Fiasko der Glaubensspaltung insbesondere der Katholizismus in einer konservativen Schockstarre und einer bedenklichen Nähe zur politischen Macht. Letztlich scheint die Vernunft, so erkennen die Aufklärer, auch ganz gut ohne Gottesbegriff über die Runden zu kommen. Es entstehen in dieser Zeit neuartige Ersatzbündnisse und rational geprägte Glaubensgemeinschaften, besonders die »Freimaurer«, die im fortschrittlichen London schon ab 1717 ganz ohne biblische Gesetze Menschen- und Naturrechte reklamieren. Friedrich der GroÃe ist später übrigens Mitglied einer solchen Loge geworden, desgleichen das Komponisten-Genie Mozart und die vielleicht gröÃten Dichter der Deutschen, Goethe und Schiller. Wenn Sie in diesen Kreisen mal nachgefragt hätten, was denn das höchste Ziel sei, das so ein Staat zu verwirklichen habe, dann hätte man Ihnen schon damals zur Antwort gegeben: die Freiheit!
Mit welch grenzenlosem Optimismus die Aufklärer ihre Vorstellung von einer neuen Weltordnung trieben, dafür ist der französische Denker Jean-Jacques Rousseau (1712 â1778) ein gutes Beispiel, der übrigens wie Voltaire Mitarbeiter an der neuen französischen Enzyklopädie war, dem ersten Versuch einer methodischen Darstellung allen menschlichen Wissens. Rousseau ging von einem geradezu paradiesischen Naturbegriff aus, nach dem der Mensch und die Natur von Anfang an gut seien. Allein die kulturelle Entwicklung habe diesen Ursprung verdorben, und die Aufgabe einer neuen Gesellschaft müsse es nun sein, an den unschuldigen Anfang zurückzukehren.
Seit Rousseau sind zwei widerstreitende Naturbegriffe in der Welt, die sich noch heute in zwei politischen Lagern abbilden: Sind die Fortschrittsgläubigen davon überzeugt, dass sich die Natur des Menschen dadurch erst vervollkommne, dass die Menschheit sich in geistiger und technologischer Hinsicht laufend weiterentwickle, so schwören die »Grünen« auf den unverdorbenen Ursprung und predigen wie Rousseau ein »Zurück zur Natur!«. Was die einen »Fortschritt« nennen, nennen die andern »Perversion« â und andersherum. Und wenn Sie mit Ihren Mitmenschen dann und wann darüber streiten, wie man »richtig leben« soll, sollten Sie zuallererst prüfen, welchem Naturverständnis Sie den Vorrang einräumen.
Denn je nachdem gelangt man zu entsprechenden Konsequenzen. So wie Rousseau: Er fordert die Freiheit und Souveränität jedes einzelnen Menschen, weil er die am Anfang der Menschheitsgeschichte als gegeben ansieht. Und nur die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, garantiere, dass die ursprüngliche Freiheit jedes einzelnen Menschen nicht eingeschränkt werde. Als Teilhaber an der Entscheidung aller gehorche nämlich der Einzelne sich sozusagen selbst. Eine Regierung, die auf Grundlage der Entscheidung aller handle, brauche keinerlei Kontrolle oder Aufsicht, so Rousseaus recht blauäugige Ãberzeugung.
Die optimistische Idee, dass das Spiel der Kräfte, wenn es denn von Unterdrückung befreit sei, die Verhältnisse automatisch zum Guten wende, hat bis heute vor allem auf unser ökonomisches Denken nachhaltig eingewirkt. Der Schotte Adam Smith (1723 â1790) entwickelte früh die Vorstellung, dass alles dann zum Besten gerate, wenn jeder die Freiheit hätte, sich um seine eigenen Belange zu kümmern. Der ungebremste Eigennutz sei das eigentliche Schwungrad einer Gesellschaft. Wenn jeder für sich sorge, sei für alle gesorgt. Aus diesem radikalen Wirtschaftsliberalismus spricht der unbändige Optimismus und Fortschrittsglaube einer Epoche, die sich anschickt, unter dem Schlachtruf von Freiheit und Gleichheit die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal umzukrempeln. Was uns heute inzwischen als gefährlich unsozialer »Kampf aller gegen alle« beängstigen würde, galt dieser Zeit noch als ultimativer Freiheitsruf. Unsere freiheitshungrigen Vorfahren hatten eben noch keinen blassen Schimmer davon, dass Freiheit ein äuÃerst
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