Unterwegs in der Weltgeschichte
Münzferngläsern, die sich nur nach unten neigen lassen, auf die Menschen in den StraÃen zu blicken, also auf sein eigenes Dasein. Man blickt nicht in den Himmel. Die Dinge, die man jetzt sieht, sind konkret, diesseitig und materiell. Nichts ist da spirituell, esoterisch oder religiös.
Der traditionelle Gottesglaube wird für den, der so auf seine Welt schaut, immer hinfälliger. Priester und Theologen bekommen jetzt starke Konkurrenz von neu erfundenen »Dolmetschern des Lebens«, von Psychologen, Psychotherapeuten, Psychoanalytikern, Soziologen, Sozialarbeitern, die es alle in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor nicht gab. Die diffusen religiösen Begriffe von einst werden nun ersetzt durch fachliche Definitionen mit wissenschaftlichem Gütesiegel: Moderne Menschen sind nicht einfach »gut« oder »böse«, sondern »gesund« oder »krank«. Und die Ausgegrenzten heiÃen nicht mehr Ketzer, Hexen und Teufel, sondern Staatsfeinde, Asoziale und Terroristen.
Es ist auch die Zeit ganz neuer Helden. Gustave Eiffel hat in der Balustrade der ersten Plattform 72 Namen in Goldschrift eingravieren lassen, die allerdings durch spätere Anstriche übermalt wurden und deshalb heute fast vergessen sind. Eiffel tat damals das, was bereits die Römer bei ihren Triumphbogen in Hinblick auf erfolgreiche Feldherrn taten: Er ehrte mit den Inschriften die Helden seiner Epoche, und die Helden seiner Zeit waren nun nicht Feldherrn oder Glaubenskämpfer, sondern allesamt Wissenschaftler.
So gewinnt man von diesem Turm aus den Ãberblick über die gewaltigen Leistungen der menschlichen Schöpfung. Und staunt. Stolz zu sein auf sich selbst und seinen Fortschritt â das ist eine wesentliche Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts.
Was für ein Welten-Wechsel innerhalb von drei Generationen! Als im Jahre 1814 die PreuÃen nach dem Sieg über Napoleon in Paris einritten, brauchte es noch ganze neun Tage, bevor die Berliner diese Top-Nachricht erfuhren. Hundert Jahre später vergehen nur noch 0,025 Sekunden, um eine Nachricht von Amerika nach England zu übermitteln. Kann man so viel Fortschritt auf einmal wirklich aushalten?
Die Ãbertragung der technischen Naturbeherrschung auf die Arbeitswelt kommt einem gesellschaftlichen Erdrutsch gleich, den man später als »Industrielle Revolution« bezeichnet hat. Man hat mit diesem Wort nicht übertrieben. Denn eine völlige Verwandlung, ein Umsturz, findet wirklich statt: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandeln sich über Nacht traditionelle Agrarwirtschaften in Industriegesellschaften. England ist mit seiner mächtigen Seeflotte und den überseeischen Kolonien der gröÃte Ex- und Importstaat und marschiert an der Spitze dieser Entwicklung. Das Commonwealth zeichnet den Weg der Zukunft vor. Mit der Einführung von Maschinen, die anfangs grundsätzlich als GroÃgeräte daherkommen, stirbt die Manufaktur, das kleine Handwerk. Die alten Zünfte lösen sich auf, an ihre Stelle tritt die Macht der Maschinenbesitzer.
Ãberhaupt wird jetzt Besitz viel wichtiger als Kenntnis und Fähigkeit. Denn jeder kann eine Maschine auch ohne langwierige Ausbildung und Talent bedienen. Allerdings wird die teure Maschine nun unabdingbare Voraussetzung für produktive Arbeit. Und eine solche Investition können sich nur vermögende Kaufleute leisten. Die Masse der Menschen wird vom Fortschrittsprofit abgehängt.
Kohle und Eisen, bisher eher marginale Rohstoffe, werden zu Schlüsselmaterialien der expandierenden Produktion. Der Eisenbahnbau löst einen Boom der Schwerindustrie aus, die es ein paar Jahre zuvor noch gar nicht gab. Das Lohndumping und damit das Elend der Arbeiter sind dabei systemimmanent: Denn der brutalste Lohndrücker hat den gröÃten wirtschaftlichen Erfolg, weil er es doch ist, der seine Produkte am Markt am billigsten anbieten kann. Für die Arbeiterschaft bürgert sich schon Anfang des Jahrhunderts der Begriff Proletariat ein, von lateinisch proles , d. h. »Nachkommen«. Das Wort beschreibt nüchtern und sachlich, was der einzige Besitzstand dieser Menschen ist: ihre Kinder. Sonst nichts. Ein neuer, ein »Vierter Stand« ist geboren.
Wirtschaftliche Mechanismen funktionieren mit der Zwangsläufigkeit einer Rechenmaschine. Der sogenannte Manchester-Kapitalismus ist ein ebenso klassisches wie
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