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Unterwegs in der Weltgeschichte

Unterwegs in der Weltgeschichte

Titel: Unterwegs in der Weltgeschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Christian Huf
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abschreckendes Beispiel für die »Freie Marktwirtschaft«: Weil in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die Baumwollindustrie in Manchester die ausländische Konkurrenz zu spüren bekommt, senken die Fabrikbesitzer die ohnehin geringen Löhne. Trotz 15 Stunden täglicher Arbeit können Väter ihre Familien von diesem Lohn nicht mehr ausreichend ernähren, Kinder und Frauen müssen mitarbeiten. Das erste staatliche Arbeitsgesetz von 1833 gilt vielen Fabrikbesitzern schon deshalb als allzu arbeiterfreundlich, weil es die Arbeitszeit für Neunjährige auf neun Stunden täglich begrenzt und die Altersgrenze für schwerste Bergwerksarbeit auf zehn Jahre heraufsetzt. Forderungen werden laut, der Staat solle sich grundsätzlich nicht in wirtschaftliche Vorgänge einmischen. Vor allem solle er die Schutzzölle für Lebensmittel aufheben, um so eine billigere Ernährung der Proletarier zu ermöglichen. 1846 erfolgt tatsächlich die Aufhebung aller Getreidezölle. Doch die Ersparnis kommt bei den Arbeitern nicht an. Stattdessen werden die Produkte verbilligt. Ein neuer Preiskampf ist die unmittelbare Folge, an dessen Ende die Löhne der Arbeiter erneut gedrückt werden. Bald wird klar: Den Proletariern fehlt jede Möglichkeit, auf ihr Schicksal gestaltend einzuwirken. Und indem Hunger und pure Not die Menschen zwingen, gegeneinander um Arbeitsplätze zu konkurrieren, setzt sich die vernichtende Spirale der immer tieferen Löhne in Gang. Das freie Spiel der Wirtschaftskräfte, der totale Wirtschaftsliberalismus lässt die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch auseinanderklaffen.
    Viele Menschen der Zeit erkannten früh, dass die soziale Frage das bedeutendste Problem des 19. Jahrhunderts werden sollte. Gleichwohl herrschte keine klare Vorstellung darüber, wie der gesellschaftliche Umbruch in den Griff zu bekommen wäre. In England waren es nur wenige Vordenker wie der Fabrikbesitzer Robert Owen (1771–1858), die, wie auf dem Kontinent etwa der Firmengründer Alfred Krupp (1812–1887) mit seiner Idee einer Arbeiter-Krankenversicherung oder Ernst Abbé mit der Verpflichtung einer Arbeiterbeteiligung am Reingewinn der Zeiss-Werke, Lösungen ersannen, die der Verelendung des Proletariats entgegenwirkten.
    Die Kirchen beider Konfessionen, weitgehend noch von Missions- und Bekehrungsideologie erfüllt und viel zu nah an Großbürgertum und Adel orientiert, verschlafen weitgehend die soziale Frage, was im weiteren Verlauf der Geschichte dazu führt, dass die Arbeiterschaft zur Kirche auf Distanz geht. Im rückwärtsgewandten Ersten Vatikanischen Konzil (1868 –1870) geht es Papst Pius IX., der mit Leidenschaft die Marienverehrung vorantreibt, vor allem um die Zementierung seiner eigenen päpstlichen Unfehlbarkeit und die »Abwehr der modernen Irrtümer des Rationalismus«. Gleichwohl gibt es auf regionaler Ebene, bei Katholiken wie Protestanten, zahlreiche Einzelversuche, das Schicksal der Arbeiterschaft zu lindern. Der Bischof von Mainz, Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), spricht der Arbeiterschaft sogar das Recht zu, für gerechte Löhne zu kämpfen. Den großen Wurf in der sozialen Frage aber überlassen die Kirchen den Intellektuellen und Agnostikern.
    Zum Beispiel dem Schriftsteller Ferdinand Lassalle (1825 –1864). Dessen außergewöhnlich kämpferischer Eifer wird nicht nur durch die Tatsache belegt, dass er bereits als Zwölfjähriger einen Nebenbuhler zum Duell forderte und mit 39 Jahren schließlich infolge eines solchen Ehrenhandels auch zu Tode kam; sondern selbst der Kommunist Friedrich Engels, der Lassalle wegen seiner positiven Einstellung zum preußischen Staat eher kritisch gegenüberstand, sah in ihm »den einzigen Kerl in Deutschland, vor dem die Fabrikanten und Fortschrittsschweinehunde Angst haben«.
    Lassalle ist ein Genie der freien Rede. Er versteht es, die Massen mit Worten zu faszinieren und zu mobilisieren. Mehrfach wandert er dafür ins Gefängnis. Er glaubt nicht an das freie Spiel der Wirtschaftskräfte und sieht nur eine Möglichkeit, »aus der Wüste herauszukommen«: Die Arbeiter müssten sich organisieren. Sie müssten eine eigene Partei bilden, die ihre Interessen politisch zur Geltung bringt. Voraussetzung dafür ist ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht, das nicht wie bisher nach Steuerklassen die jeweiligen

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