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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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schrieb, wie sie seit Stalins Aufstieg verboten gewesen waren, oder Jewgeni Jewtuschenko, der eine sowjetrussische Welt ohne Stalin zu beschwören schien. Wenn die Dichter, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren alt, gemeinsam auf öffentlichen Plätzen in Moskau auftraten, zogen sie mit ihrer Lyrik bis zu fünfzehntausend junge Zuhörer an. »Wir sind die Beatles von Moskau«, sagte Andrej Wosnessenski nach einer Dichterlesung auf dem Manegeplatz, bei der die Polizei die Kontrolle völlig zu verlieren schien. 1963 verwarnte ihn Nikita Chruschtschow am Rande einer Kunstausstellung: Wenn er so weitermache, müsse er Russland verlassen. Wosnessenski antwortete: »Ich bin ein russischer Dichter und ich gehe nirgendwo anders hin.« Der Dichter überlebte den Politiker, der allerdings am Ende seines Lebens, nachdem ihn seine Nachfolger Mitte der sechziger Jahre entmachtet hatten, die neuen Lyriker, die jungen Maler und Bildhauer noch für sich entdeckte. Die Porträtbüste für sein Grab ließ sich Chruschtschow von dem verfemten Bildhauer Ernst Neiswestny schaffen. Da war die Zeit des Tauwetters schon seit einigen Jahren wieder vorbei.
    Dann aber, als auch Breschnew seinem Lebensende entgegenging, fanden sich wieder Freiräume für eine Kunst, die nichts mit propagandistischer Begeisterung zu tun hatte. Einmal stand ich auf der Bühne der Leichtathletikhalle Luschniki, der größten von Moskau, neben Bella Achmadulina. Boris Messerer, ihr Ehemann und Bühnenbildner des Bolschoi-Theaters, hatte mich an der Einlasskontrolle vorbeigeschmuggelt, weil die Karten längst ausverkauft waren. Der Saal war überfüllt. Plötzlich sahen wir einen älteren, bürokratisch aussehenden Mann, der zum Vorhang ging und vorsichtig durch einen Spalt auf das Publikum blickte. Es war der Direktor der Sporthalle. Er atmete tief durch und sagte dann zu Messerer: »Schrecklich. Alles Andersdenkende.« Das war ein Ausdruck für die wachsende Zahl von Menschen, die sich von den Vorstellungen der Partei lösten, ohne ihnen eindeutig Widerstand entgegenzustellen.
    Diese »Andersdenkenden« liebten die Dichter, die zu Beginn der sechziger Jahre ihre großen Erfolge gefeiert hatten. Tatsächlich fanden sich auch immer wieder kleinere Verlage in der Provinz, die Gedichte von ihnen veröffentlichten – nicht zuletzt, weil sie sich auch in Moskau verkaufen ließen, wo die größeren Verlagshäuser sie nicht drucken durften. In den achtziger Jahren beschloss der sowjetische Schriftstellerverband, erstmals einen Lyrikband von Bella Achmadulina herauszugeben, aber dann fand der KGB heraus, dass sie ein Gedicht über Andrej Sacharow geschrieben hatte. Daraufhin mussten die bereits gedruckten Bücher eingestampft werden. Offizielle Begründung: Tendenz zum Erotizismus. Das war nicht nur eine entsetzliche und lange nachwirkende Enttäuschung für die Dichterin, sondern auch eine harte Warnung an alle anderen Schriftsteller. Trotzdem riskierten es einige immer wieder, sich gegen die politische Steuerung des literarischen Lebens der Hauptstadt zu wehren.
    Wladimir Wyssozki war in diesen letzten Jahren der Breschnew-Ära ein als Hamlet gefeierter Bühnenstar und zugleich ein Untergrundsänger, der auf Partys mit rauer Stimme Ganovenlieder vortrug und wilde lyrische Songs, die er selbst geschrieben hatte. Die Russen nannten Wyssozki einen Barden, ein Wort, das sich gerade für Liedermacher wie ihn einbürgerte. Er war mit der französischen Schauspielerin Marina Vlady verheiratet und durfte deshalb einige Male nach Paris fahren und dort ein Dutzend Lieder aufnehmen. Diese Aufnahmen gab es gelegentlich zu kaufen, entweder auf Schallplatten, die aus Frankreich importiert waren und nur unter der Theke gehandelt wurden, oder auf selbst kopierten Tonbändern, die zu hohen Preisen an allen Ecken der Sowjetunion schwarz angeboten wurden.
    Wyssozki starb im Juli 1980 , an dem fatalen Zusammenwirken von Wodka und starken Medikamenten. Als seine Leiche im Taganka-Theater aufgebahrt lag, standen seine Bewunderer fast einen Kilometer lang in Sechserreihen vom Theatereingang bis zum Ufer der Moskwa. Abends wurde im Theater eine Gedenkstunde abgehalten, draußen versammelten sich die Menschen in kleinen Gruppen mit ihren Kassettenrekordern und hörten Wyssozkis Lieder. Als sie zu singen begannen, schlugen Polizisten und KGB -Leute in Trainingsanzügen auf sie ein und schoben Einzelne in vergitterte Gefangenenwagen. Im Theater saß währenddessen die Moskauer Intelligenz

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