Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
mit insgesamt siebenhundert Minuten Laufzeit. Die Ausstrahlung begann im Herbst 1960 und zog sich bis in das Frühjahr 1961. Eine vergleichbare Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit hatte es im deutschen Fernsehen und selbst bei den englischen und amerikanischen Kollegen noch nicht gegeben. Damals war der Öffentlichkeit nur wenig zuverlässige Literatur über die NS -Zeit und noch weniger Bildmaterial zugänglich. Die kritische Diskussion war in den fünfziger Jahren beiseitegeschoben worden zugunsten der Auseinandersetzung darüber, wie das geteilte Deutschland wiederaufgebaut und in die Strukturen des neuen Europa eingegliedert werden könne. Die Intendanten der zwei beteiligten Sender stärkten einander, indem sie Das Dritte Reich gemeinsam produzierten und gegen die Bedenken anderer ARD -Intendanten und vieler kritischer Stimmen in den Aufsichtsgremien und in der Politik verteidigten.
Die Idee der Reihe war klar: So weit wie möglich dokumentarisch zu belegen, was in der NS -Zeit geschehen war, und die deutschen Zuschauer mit diesen Bildern zu konfrontieren, die viele mit eigenen Augen gesehen hatten und an die sie sich doch nicht mehr erinnern wollten. An der Realisierung der Serie war nur eine kleine Gruppe von Personen beteiligt: der Redakteur Heinz Huber vom Süddeutschen Rundfunk, der Politikwissenschaftler Waldemar Besson und der freie Textautor Arthur Müller. Darüber hinaus hatte der WDR mich mit der Aufgabe betraut, nach Zeitzeugen und Opfern zu suchen und sie für die Sendung zu interviewen. Die Recherche nach gedrucktem und fotografischem Archivmaterial übernahm Hannes Hoff. Er suchte in deutschen und ausländischen Archiven, aber das gestaltete sich schwieriger als erwartet, weil es kaum offizielle Materialsammlungen gab. Vieles lag außerdem in kleinen, manchmal privaten Archiven, in denen nach Kriegsende einzelne Filmrollen auf oft dubiose Weise gelandet waren. Oder es befand sich im Ausland, zum Beispiel in Italien, wo Regierungsstellen alles Material wegzuschließen versuchten, das Hitler und Mussolini gemeinsam zeigte.
Auch in Deutschland gab es Widerstand gegen die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Das gängige Gegenargument lautete: In der Bundesrepublik sei endlich eine demokratische Konsolidierung erreicht worden, die durch eine weitere kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nur gestört werden könnte. Die Kritik kam nicht immer nur aus extrem rechten Kreisen, sondern auch von Leuten, die besorgt darüber waren, dass zu viele Anschuldigungen gegen das Dritte Reich das erst langsam erwachende Selbstwertgefühl der Deutschen wieder ins Wanken bringen könnten. Aber letztlich bekamen wir als Redaktion weniger Druck von außen, als wir erwartet hatten. Außerdem arbeiteten wir an den einzelnen Folgen oft bis kurz vor dem Sendetermin, so dass sich die Aufsichtsgremien oder Bedenkenträger aus der Politik nicht mehr einmischen konnten. Wir selbst führten lange Diskussionen darüber, wie das vorhandene Material verwendet werden und welcher Kommentar es jeweils erläutern sollte. Wir wussten, dass jeder sachliche Fehler von Kritikern und Gegnern benutzt werden konnte, um das gesamte Projekt zu diskreditieren.
Die wochenlange Arbeit mit Dokumenten und Bildern der NS -Zeit war eine enorme psychische Belastung für uns alle. Bilder, wie wir sie in der Folge »Der SS -Staat« zeigten, hatte es im Fernsehen oder im Film in dieser Intensität vorher nicht gegeben. An meiner eigenen Reaktion merkte ich, dass auch ich unbewusst manche Erinnerungen beiseitegeschoben hatte, um ihrer Last zu entgehen. Insofern war uns klar, dass es schwer sein würde, die Zuschauer zu erreichen und zu verhindern, dass sie im doppelten Sinne abschalteten. Doch dann folgte die Überraschung: Von der ersten bis zur letzten Sendung saßen jedes Mal sieben bis acht Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten. Ihre Reaktion war seltsam gespalten: Viele Menschen lehnten die Reihe zunächst ab und schalteten sie dann doch Folge um Folge ein. In einer Meinungsumfrage erklärten schließlich fast zwei Drittel der Zuschauer, die Sendungen seien wichtig und nützlich gewesen. Nur wenige, etwas über fünf Prozent, sprachen sich komplett gegen die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich aus. Ein paar zynische Kommentare gab es doch: »Vielen Dank für die schönen Sendungen. Sie haben in mir viele liebe Erinnerungen geweckt.«
Bei etlichen Zuschauern löste die Reihe einen Schock aus, der
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