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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Schrecken und Erschütterung groß. Die Mehrheit der Amerikaner empfand die Todesnachricht als entsetzlichen Schock. Dass der Präsident ihres Landes ermordet werden konnte, war für viele schlicht unvorstellbar. Dieses Entsetzen überlagerte letztlich auch die Kritik, die sich in den vorangegangenen Monaten immer stärker gegen Kennedys Politik gerichtet hatte. Er war zu dieser Zeit nicht mehr der strahlende junge Präsident auf dem Weg zu »neuen Grenzen«, an den wir uns dann einige Jahre später erinnern würden. Politische Beobachter zweifelten damals daran, dass John F. Kennedy überhaupt noch einmal wiedergewählt werden könnte, weil er vielen Amerikanern zu linksliberal und zu »negerfreundlich« schien und weil ihnen seine Verhandlungen über eine internationale Kontrolle der atomaren Aufrüstung zu weich und nachgiebig waren.
    Die fünfzehn oder zwanzig jungen Menschen, mit denen ich bis zum frühen Morgen in der Highlander Folk School zusammensaß, waren im Gegensatz dazu der Meinung, Kennedy habe seine liberale Politik nicht entschlossen genug durchgesetzt. Sie waren einerseits tief getroffen von dem Attentat, andererseits aber auch erregt angesichts der neuen Perspektiven, die sich aus ihrer Sicht für die amerikanische Politik ergaben: Von einem Präsidenten Johnson erwarteten sie, dass er Reformen des Wahlrechts und der Sozialpolitik umsetzen würde, die sein Vorgänger bei den Abgeordneten und Senatoren des Kongresses nicht durchzubringen vermocht hatte. Johnson sei ein Mann, der die demokratische Reformbewegung von Präsident Franklin D. Roosevelt mit Machtbewusstsein und Schlauheit wiederaufnehmen könne. Viele Abgeordnete, Senatoren und auch lokale Parteiführer hätten den starken Führer des amerikanischen Senats immer wieder zur Unterstützung für ihre Anliegen gebraucht. Johnson vergesse so etwas nie und werde sie vor knappen Abstimmungen an diese Schulden erinnern. Damit seien die Liberalen gewaltig gestärkt. Diese Perspektive überraschte mich, denn ich hatte, wie die meisten Amerikaner, Johnson eher für konservativer als Kennedy gehalten. Und da ich nicht leicht von dem zu überzeugen war, was die jungen Idealisten fern von Washington als ihre politische Hoffnung ansahen, gaben sie mir die Telefonnummer von Johnsons engstem Mitarbeiter, Bill Moyers, später einer der wichtigsten Journalisten des öffentlichen amerikanischen Fernsehens. Sie wollten mich bei ihm ankündigen, sobald ich wieder in der Hauptstadt sei. Moyers sei ein Unterstützer der Bürgerrechtsbewegung, ein ehemaliger Theologiestudent von etwa dreißig Jahren, der Johnsons Wahlkämpfe organisiert habe. Er entwickle auch Johnsons Reformprogramm, das zur sogenannten Großen Gesellschaft (»Great Society«) führen solle, und sei im Weißen Haus wohl der Einzige, der Johnson widersprechen könne.
    Ich war froh, dass ich an diesem Abend die Highlander Folk School wiedergefunden hatte. Sie war nach Knoxville ausgewichen, nachdem der Ku-Klux-Klan sie in Brand gesetzt und die Stadtverwaltung von Monteagle sie nach mehreren Prozessen als »kommunistische Schule« geschlossen hatte. Ich erfuhr, welche wichtige Rolle die Schule in der Auseinandersetzung über das Wahlrecht der schwarzen Amerikaner gespielt hatte: Rosa Parks, die sich 1955 als erste Schwarze weigerte, ihren Platz in einem Autobus für Weiße freizumachen, hatte dort gewaltlosen Widerstand eingeübt, ebenso der Pastor Martin Luther King, der zum Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung werden sollte, und dazu viele junge Leute, die später in der Studentenbewegung eine Rolle spielen würden.
    Der nächste Tag war hektisch. Mit dem ersten Flug kehrte ich am Morgen nach Washington zurück. Ich wollte aus dem Archiv des ARD -Studios Filmmaterial heraussuchen, das ich für einen Hintergrundbericht über den Mord am Präsidenten und seine möglichen politischen Folgen brauchte. Da es noch keine ständige Satellitenverbindung nach Deutschland gab, packte ich die Filme in einen Koffer, um sie nach Köln mitzunehmen, wo ich sie bearbeiten und kommentieren konnte. Berichte und Bilder des US -Fernsehens und der internationalen Agenturen, die Amerika in seiner Trauer und seinem Entsetzen zeigten, würden längst vor mir in Deutschland angekommen sein. Deshalb wählte ich Material, dessen Schwerpunkt bei dem neuen Mann lag, dem künftigen Präsidenten Lyndon Johnson. Im Weißen Haus nahm sich dessen Assistent Bill Moyers tatsächlich nach einem Anruf von den Bürgerrechtlern

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