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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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oft mit Camille und hatte lange Gespräche mit ihr; sie redeten sogar über sein Dings, behauptete Dean jedenfalls. Sie wechselten Briefe über Deans exzentrisches Verhalten. Natürlich musste er jeden Monat einen Teil seines Lohns an Camille schicken, sonst wäre er auf ein halbes Jahr im Arbeitshaus gelandet. Um den Verlust wettzumachen, schummelte er auf dem Parkplatz, ein wahrer Wechselkünstler erster Klasse. Ich sah, wie er einem wohlhabenden Mann so überschwänglich fröhliche Weihnachten wünschte, dass die fehlenden fünf Dollar Wechselgeld überhaupt nicht vermisst wurden. Wir verjubelten sie im Birdland, dem Bebop-Schuppen. Lester Young stand an diesem Abend auf dem Podium, Ewigkeit auf seinen riesigen Augenlidern.
    Einmal standen wir nachts um drei an der Madison Avenue, Ecke 47th Street und redeten. «Oh, verdammt, Sal, ich wünschte, du würdest nicht fahren, wirklich, es wird das erste Mal sein, dass ich ohne meinen alten Kumpel in New York bin.» Und er sagte: «New York, das ist für mich eine Zwischenstation, zu Hause bin ich in Frisco. Und die ganze Zeit hier habe ich noch kein Mädchen gehabt, nur Inez – so was kann mir nur in New York passieren! Verdammt! Aber der bloße Gedanke, noch einmal diesen schrecklichen Kontinent zu überqueren – Sal, wir haben lange nicht mehr richtig geredet.» In New York hingen wir immer mit Scharen von Freunden auf versoffenen Partys herum. Irgendwie passte das nicht zu Dean. Wenn er hier bei Nacht auf der leeren Madison Avenue unter dem kalten Nieselregen die Schultern einzog, war er doch mehr er selbst. «Inez liebt mich; sie hat mir gesagt und versprochen, dass ich alles tun kann, was ich will, und es wird nur ein Minimum an Problemen geben. Siehst du, Mann, je älter man wird, desto größer werden die Sorgen. Du und ich, wir werden eines Tages bei Sonnenuntergang durch eine Hintergasse schlurfen und in den Mülltonnen stöbern.»
    «Meinst du, wir werden als zwei alte Penner enden?»
    «Warum nicht, Mann? Klar, werden wir, falls wir es wollen. Und es ist nichts dabei, so zu enden. Du hast ein Leben lang keine Konflikte mit den Wünschen anderer, einschließlich der Politiker und der Reichen, und niemand belästigt dich, und du läufst rum und machst alles so, wie es dir passt.» Ich stimmte ihm zu. Ganz einfach und direkt traf er seine taoistischen Entscheidungen. «Was ist dein Weg, Mann? Der Weg des heiligen Knaben, der Weg des Irren, der Regenbogenweg, der Weg der Guppys, jeder Weg. Ein Weg, der überallhin führt, jeden, irgendwie. Wohin, wer, wie?» Wir standen im Regen und nickten mit den Köpfen. «Verdammt, und du musst auf den Jungen in dir aufpassen. Er ist nur ein Mann, solange er auf den Beinen ist – mach, was der Doktor sagt. Ich will dir was sagen, Sal, ganz offen: Egal, wo ich lebe, mein Koffer guckt immer unter dem Bett hervor, ich bin bereit, abzuhauen oder mich rauswerfen zu lassen. Ich habe beschlossen, alles aus den Händen zu geben. Du hast gesehen, wie ich mir den Arsch abgearbeitet habe, um es zu schaffen, du weißt, dass es nicht darauf ankommt, und wir wissen, was Zeit bedeutet – wie man sie aufhält und rumläuft und alles checkt und die richtigen Sachen macht, wie früher – was gibt’s denn sonst noch im Leben? Wir wissen Bescheid.» Wir standen im Regen und seufzten. An diesem Abend regnete es überall im Hudson Valley. Es regnete auf die großen Überseepiers am Fluss, der hier weit wie ein Meer ist, es regnete auf die Landungsbrücken der Dampfbarkassen in Poughkeepsie, es regnete auf den Split Rock Pond an den Quellen, es regnete auf den Mount Vanderwhacker.
    «Tja», sagte Dean, «und so renne ich weiter durch mein Leben, wie es mich gerade führt. Weißt du, vor kurzem hab ich an meinen Alten geschrieben, ins Staatsgefängnis in Seattle – dieser Tage habe ich den ersten Brief seit Jahren von ihm bekommen.»
    «Tatsächlich?»
    «Ja, ja. Er will das ‹Babby› sehen, sagt er, und hat es mit zwei b geschrieben, sobald er nach Frisco kommen kann. Ich habe eine Dreizehn-Dollar-Bude in den vierziger Straßen an der Eastside für ihn gefunden; wenn ich ihm das Geld schicken kann, will er kommen und in New York leben – falls er’s bis hierher schafft. Von meiner Schwester hab ich dir nie viel erzählt, aber glaube mir, ich habe eine süße kleine Schwester; ich möchte, dass sie herkommt und auch bei mir wohnt.»
    «Wo ist sie?»
    «Ah, das ist es ja, ich weiß es nicht – er will versuchen, sie zu finden, der Alte,

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