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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Carlo kommen. Nach der Party ging ich hin.
    Carlos Kellerwohnung befand sich in einem alten Backsteinhaus an der Grant Street, eine Pension, nicht weit von einer Kirche. Man musste zur Seitengasse hinausgehen, eine Steintreppe hinunter, eine rissige alte Tür aufstoßen und durch eine Art Keller laufen, bis man zu seiner Brettertür kam. Es sah aus wie in der Zelle eines russischen Heiligen: ein Bett, eine brennende Kerze, Feuchtigkeit schwitzende nackte Wände und eine verrückte Art von Ikone, die er selbst gebastelt hatte. Er las mir seine Gedichte vor. Der Titel lautete: «Denver-Trübsal». Wenn Carlo am Morgen erwachte, hörte er draußen vor seiner Zelle «vulgäre Tauben» auf der Straße endlos gurren; er sah «traurige Nachtigallen» auf Zweigen wippen, und sie erinnerten ihn an seine Mutter. Ein graues Leichentuch breitete sich über die Stadt. Die Berge, die herrlichen Rocky Mountains, die man von jedem Winkel der Stadt im Westen sehen kann, waren aus «Pappmaché». Das ganze Universum war verrückt und blöde und über die Maßen sonderbar. Dean war in seinen Gedichten ein «Kind des Regenbogens», das seine Qual in seinem gefolterten Priapus trug. Er bezeichnete ihn als «Ödipus Eddie», der «Kaugummi von Windschutzscheiben kratzen» musste. Er brütete in seinem Kellerloch über einem großen Journal, in dem er alles festhielt, was jeden Tag passierte – alles, was Dean tat und von sich gab.
    Dean kam pünktlich, nach Zeitplan. «Alles klar», verkündete er. «Ich lasse mich von Marylou scheiden und heirate Camille und werde mit ihr in San Francisco leben. Aber vorher müssen du und ich, lieber Carlo, nach Texas fahren und uns Old Bull Lee ansehen, diesen weggetretenen Typ, den ich nie getroffen und von dem ihr mir beide so viel erzählt habt; dann erst gehe ich nach San Fran.»
    Dann kamen sie zur Geschäftsordnung. Sie setzten sich mit gekreuzten Beinen aufs Bett und blickten einander starr in die Augen. Ich flegelte mich auf einen Stuhl in der Ecke und sah die ganze Zeit zu. Sie fingen mit einem abstrakten Gedanken an, diskutierten darüber; sie erinnerten einander an einen anderen abstrakten Punkt, der, ohne dass sie ihn behandelt hatten, in der Hektik der Ereignisse unter den Tisch gefallen war; Dean entschuldigte sich, versicherte aber, er könne darauf zurückkommen und das in Ordnung bringen und auch Beispiele anführen.
    Carlo sagte: «Und als wir über den Wazee River fuhren, wollte ich dir gerade sagen, was ich von deiner Spinnerei mit den Kleinwagen halte, und ausgerechnet in dem Moment, erinnerst du dich, hast du auf den alten Penner mit der ausgebeulten Hose gezeigt und gesagt, er sehe aus wie dein Vater.»
    «Ja, ja, klar erinnere ich mich; und nicht nur das, sondern es hat auch bei mir eine Bewegung ausgelöst, etwas ganz Wildes, was ich dir erzählen wollte, ich hatte es ganz vergessen, und jetzt, wo du mich daran erinnerst …» Und zwei neue zu behandelnde Punkte waren geboren. Sie wurden durchgekaut. Dann wollte Carlo von Dean wissen, ob er aufrichtig sei, vor allem ob er ihm gegenüber aufrichtig sei, im tiefsten Grund seiner Seele.
    «Warum fängst du schon wieder damit an?»
    «Da ist noch ein Letztes, was ich wissen möchte –»
    «Aber, lieber Sal, du hörst uns zu, du sitzt da, wir wollen Sal fragen. Was würde er dazu sagen?»
    Und ich sagte: «Dieses Letzte, Carlo, ist genau das, was du nie kriegen wirst. Niemand kann dieses Letzte erlangen. Wir leben nur dauernd in der Hoffnung, es ein für allemal einzufangen.»
    «Nein, nein, nein, du redest völligen Quatsch, romantisch hochgestochenes Zeug à la Tom Wolfe», sagte Carlo.
    Und Dean sagte: «Das habe ich überhaupt nicht gemeint, aber lassen wir doch Sal seine Meinung, und tatsächlich, Carlo, findest du nicht, dass es eine eigene Art von Würde hat, wie er da sitzt und uns gespannt zuhört, irrer Typ, der den ganzen Weg quer durchs Land herübergekommen ist – guter alter Sal, will’s nicht sagen, Sal will’s nicht sagen.»
    «Es ist nicht so, dass ich’s nicht sagen will», protestierte ich. «Ich weiß einfach nicht, worauf ihr beide hinauswollt oder was ihr im Sinn habt. Ich weiß nur, es ist zu viel, das schafft niemand.»
    «Alles, was du sagst, ist negativ.»
    «Also dann, worauf wollt ihr hinaus?»
    «Sag’s ihm.»
    «Nein, sag du’s ihm.»
    «Da gibt’s nichts zu sagen», sagte ich und lachte. Ich hatte Carlos Mütze aufgesetzt. Jetzt zog ich sie mir über die Augen. «Ich möchte schlafen», sagte

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