Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
Vom Netzwerk:
fuhr auf einer erhöhten Schotterstraße, die zu beiden Seiten, mit Schlingpflanzen bewachsen, steil abfiel. Wir kamen an einem Gespenst vorbei: Es war ein Schwarzer in weißem Hemd, der drauflosmarschierte und die Arme zum pechschwarzen Himmel reckte. Entweder er betete, oder er stieß einen Fluch aus. Wir sausten weiter; ich blickte durchs Rückfenster und sah seine weißen Augenbälle. «Hu!», sagte Dean. «Pass auf. Wir sollten in dieser Gegend besser nicht anhalten.» Irgendwann standen wir vor einer Kreuzung und mussten so oder so halten. Dean machte die Scheinwerfer aus. Wir steckten mitten im tiefsten Wald, Schlingpflanzen rankten sich um die Bäume, wir hörten beinahe das Rascheln von Millionen Copperhead-Nattern. Wir sahen nichts als die rote Ladekrontrollleuchte am Armaturenbrett des Hudson. Marylou kreischte vor Angst. Wir lachten wie zwei Irre, um sie zu erschrecken. Auch wir hatten Angst. Wir wollten raus aus diesem Schlangenhort, aus diesem finsteren, schwülen Sumpf, und schnell zurück auf vertrauten amerikanischen Boden mit seinen Kuhdörfern. Der Geruch von Öl und brackigem Wasser hing in der Luft. Dies alles war ein Buch der Nacht, das wir nicht entziffern konnten. Eine Eule schrie. Auf gut Glück bogen wir in eine der beiden Sandstraßen ein, und bald überquerten wir den bösen alten Sabine River, der verantwortlich ist für alle Sümpfe. Staunend sahen wir riesige Lichtgebilde vor uns. «Texas! Das ist in Texas! Beaumont, die Ölstadt!» Gewaltige Öltanks und Raffinerien ragten wie Wolkenkratzer einer City in die ölgeschwängerte Atmosphäre.
    «Was bin ich froh, dass wir draußen sind», sagte Marylou. «Lasst uns noch einen Krimi im Radio hören.»
    Wir sausten durch Beaumont, dann bei Liberty über den Trinity River und weiter nach Houston. Dean erzählte von seiner Zeit 1947 in Houston. «Hassel! Der verrückte Hassel! Ich suche nach ihm, wo immer ich bin, und finde ihn nie. Wie oft hat er uns aufgehalten, hier in Texas. Jedes Mal, wenn wir mit Bull Lebensmittel einkaufen fuhren, war Hassel verschwunden. In allen Fixerbuden der Stadt haben wir ihn gesucht.» Wir hatten gerade Houston erreicht. «Wir mussten ihn meistens im Schwarzenviertel der Stadt suchen. Mann, der setzte sich mit jedem Irren einen Schuss, der ihm über den Weg lief. Eines Abends verloren wir ihn und mussten ein Hotelzimmer nehmen. Eigentlich sollten wir Eis für Jane holen, weil ihr die Lebensmittel verfaulten. Es dauerte zwei Tage, bis wir Hassel fanden. Ich war selbst schon ganz weggetreten, ich machte Frauen am helllichten Nachmittag an, mitten in der Stadt, beim Einkaufen in Supermärkten» – gerade rollten wir auf der nächtlich leeren Straße an einem vorbei –, «und fand ein echt kaputtes dumpfes Mädchen; sie war nicht ganz richtig im Kopf, sie wanderte immer nur durch die Stadt und versuchte eine Orange zu klauen. Sie kam aus Wyoming. Ihr Körper war so schön, wie ihr Verstand schwach war. Sie brabbelte vor sich hin, als ich sie entdeckte und ins Hotel mitnahm. Bull war betrunken und versuchte einen Mexikanerjungen betrunken zu machen. Carlo schrieb Gedichte, vollgepumpt mit Heroin. Hassel kam erst gegen Mitternacht zum Jeep zurück. Er schlief auf dem Rücksitz, als wir ihn fanden. Das Eis war geschmolzen. Hassel behauptete, er habe fünf Schlaftabletten genommen. Mann, wenn mein Gedächtnis so funktionieren würde wie mein Verstand, ich könnte dir Dinge erzählen … Sachen, die wir gemacht haben … bis ins kleinste Detail. Ah, aber wir wissen ja, was Zeit bedeutet. Alles läuft von selbst. Ich könnte die Augen zumachen, und dieser Wagen würde von selbst weiterfahren.»
    In den leeren Straßen von Houston um vier Uhr morgens donnerte plötzlich ein Motorradfahrer vorbei, voll ausstaffiert mit glitzernden Knöpfen, Visier, glatter schwarzer Ledermontur, ein Texas-Dichter der Nacht, mit seinem Mädchen, das an seinem Rücken hing, wie ein Indianerbaby im Wickeltuch, flatternde Haare, den Blick nach vorn, und dazu ein Song: «Houston, Austin, Fort Worth, Dallas – und manchmal Kansas City, und manchmal das gute alte San Antonio – aaah! Ha!» Wie der Blitz zischten sie davon in die Dunkelheit. «Wow! Hast du die irre Braut gesehen, die ihm am Rücken hing? Los, hinterher!» Dean versuchte sie einzuholen. «Wäre es nicht phantastisch, wenn wir uns alle zusammenhocken und uns alle miteinander was einwerfen könnten, jeder friedlich und nett und zugänglich, kein Gezerre, kein kindisches

Weitere Kostenlose Bücher