Unterwelt
Wohnzimmer, im Haus der Mutter, der Mutter und des Vaters, wo sie aufgewachsen war, und in den meisten Zimmern stand Schleierkraut, auch in Zwergvasen auf Flurtischen, kleine weiße Blumen mit Zweigbüscheln, und ihre Mutter stellte sie gern so steif hin, wie sie waren, ohne die üblichen größeren Arrangements, welchen Grund auch immer eine Mutter dafür haben mochte, während draußen die Ulmen gelb wurden und die Roteichen erglühten, an diesem schönen Herbsttag in Madison, Wisconsin, und auf den Straßen liefen die Studenten Sturm.
»Du hast also deine Geheimnisse.«
»Er ist kein Geheimnis«, sagte Marian.
»Du kennst ihn schon die ganze Zeit, und ich höre erst jetzt davon. Das ist ein Geheimnis.«
»Ich kenne ihn eigentlich schon die ganze Zeit.«
»Und jetzt kennst du ihn wie?«
Die Mutter lächelte zuerst, dann die Tochter.
»Uneigentlich«, sagte Marian. »Aber er ist kein Geheimnis. Es gab einfach nicht viel zu erzählen, das ist alles.«
»Es gibt immer irgendwas zu erzählen. Was spüre ich da in dieser Beziehung? Ich glaube, du bist sehr unsicher. Du hast eine Tendenz. Die hattest du immer. Gegen deine Zweifel zu handeln. Weil – ach, ich weiß nicht genau, warum du es eigentlich tust.«
Sie hörten die Stimmen jetzt deutlicher, sie donnerten aus Stereolautsprechern heraus, die in den Fenstern der Ganzdachhäuser auf der Mifflin Street standen.
»Das war mir gar nicht bewußt. Habe ich Zweifel ausgedrückt.«
»Ja. Und es ist ganz klar, daß ich sie bemerken soll. Es ist klar, daß du von mir erwartest, etwas gegen den Mann zu sagen.«
»Das ist völlig. Nein nein nein nein«, sagte Marian sanft.
»Du bringst es selber nicht fertig, etwas gegen ihn zu sagen. Du willst, daß ich es tue.«
»Und du spürst all das, sozusagen.«
»Nicht sozusagen. Hart und klar.«
»Und was geschieht, wenn du etwas gegen ihn sagst? Sage ich, danke schön, Mutter, du hast mich vor Schlimmerem bewahrt?«
»Natürlich nicht. Du verteidigst ihn. Du stehst zu ihm.«
»Sie steht zu ihrem Mann. Und du, was, du leitest all das aus den paar Sätzen ab, in denen ich praktisch nichts über ihn gesagt habe.«
»Sag mir, daß ich unrecht habe«, sagte ihre Mutter, »und ich werde mich bemühen, dir zu glauben.«
Ihre Mutter wandte sich zum Fenster, sie wirkte leicht verärgert. Draußen liefen sie durch die Straßen. Wahrscheinlich warfen sie mit Steinen und zündeten Feuer an. Unter die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte, mischte sich auch eine Megaphonstimme.
»Die haben jetzt Protestsaison, wie es so schön heißt.«
»Wäre ich je auf den Gedanken gekommen«, sagte Marian, »daß Chicago friedlich und ordentlich sein könnte?«
»Ich weiß nicht, ob das hier die Protestsaison ist oder nicht. Vielleicht ist es auch nur ein Straßenfest, das die Polizei im Griff behalten will. Obwohl, nein, das kann nicht sein. Straßenfeste sind im Frühling.«
»Wenn du sie dazu bringst, mit diesem Lärm aufzuhören, komme ich Thanksgiving wieder.«
Ihre Mutter sagte: »Ist er verheiratet?«
Und bedauerte es augenblicklich. Marian erkannte den Selbstvorwurf am schiefen Mund ihrer Mutter. Ja, ein seltener Ausrutscher.
Er schwächte die Autorität ihrer vorhergehenden Bemerkungen ab und war völlig unüberlegt, ein Lapsus, ein taktischer Fehler, und die Farbe im Gesicht ihrer Mutter wurde stumpf. Denn wenn er verheiratet wäre, erstens, warum sollte Marian von ihm erzählen, ohne das zu erwähnen; und zweitens, warum sollte sie überhaupt von ihm erzählen? »Nein, natürlich nicht.«
»Natürlich nicht. Ich weiß das«, sagte ihre Mutter.
Marian ging nach oben und fühlte sich schon viel besser. Sie liebte ihr altes Zimmer. Sie kam sehr gern zurück, weil es hier ruhige Straßen gab, theoretisch jedenfalls, und Häuser mit Sonnenveranden und Fliegengittern, Ulmenalleen und Universitätsgebäude, und weil es hier ihr Zimmer gab, für sie, sicher und gepflegt, karg, unscheinbar, unaufgemotzt und dabei ein Ort, den keiner so sehen konnte wie sie und der eine beachtliche Menge von dem enthielt, was mit Zuhause gemeint ist.
Sie fing an, für die Rückfahrt zu packen, holte ein paar Wintersachen aus dem Schrank und hielt dann kurz inne, um das Radio einzuschalten. Sie kriegte WIBA rein, den Raus-auf-die-Straße-Protestsender, denn sie wollte wissen, was da draußen los war, nur aus entnervtem Interesse und weil der Lärm immer lauter wurde.
Es war zu früh zum Packen, aber sie tat es trotzdem. Zu Hause ist der Ort,
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