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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Cotter.
    »Ich habe mir gesagt, dieser Mann hat auch ein Leben, selbst wenn wir es uns gar nicht vorstellen können. Dieser Mann geht irgendwohin nach Hause. Aber wohin geht er? Wie lebt er? Ich versuche mir vorzustellen, was er wohl tut, wenn er nicht da steht und predigt.«
    Rosie sagt: »Solche Leute sehe ich ständig irgendwo.«
    »Aber der hier ist standhaft. Immer an derselben Stelle. Ich glaube, dem ist es egal, ob die Leute zuhören. Der würde auch den vorbeifahrenden Autos predigen.«
    »Was hat er denn gesagt?«
    »Daß keiner den Tag oder die Stunde weiß. Anscheinend haben die Russen eine A-Bombe gezündet. Und keiner weiß den Tag oder die Stunde. Es kam in den Nachrichten.«
    Rosie sagt: »Das kann mich nicht aufregen.«
    »Mich hat es aufgeregt, bis ich mit den Einkaufstaschen die Treppen raufging. Ich dachte, gleich reißt's mir die Schulter aus dem Gelenk.«
    »Alles wie gehabt«, sagt Rosie.
    »Aber ich habe mich hingestellt und ihm zugehört. Muß ich zugeben. Zum ersten Mal habe ich dem Mann zugehört.«
    »Der ist immer da«, sagt Cotter.
    »Zum ersten Mal. Keiner weiß den Tag oder die Stunde. Heißt es nicht so ähnlich in Matthäus 24?«
    »Das kann mich nicht aufregen«, sagt Rosie.
    »Aber der Mann hat auch ein Leben, und es ist mir ein Rätsel, wie er das macht.«
    »Die Leute predigen immer«, sagt Rosie.
    »Und was er anhat. Eine Schande ist das. Dabei ist er kein Verrückter. Der kennt seine Heilige Schrift.«
    »Und wenn er die Heilige Schrift kennt«, sagt Cotter. »Gibt Leute, die kennen die Heilige Schrift und haben trotzdem eine Meise unterm Pony.«
    »Amen«, sagt seine Schwester.
    Nach dem Abendessen sitzt er wieder in seinem Zimmer und schaut aus dem Fenster. Er sollte eigentlich in seinem Zimmer sitzen und Hausaufgaben machen, und in seinem Zimmer sitzt er ja auch, aber er weiß nicht, was er aufhat. Er liest in seinem Buch über die Weltgeschichte ein paar Seiten weiter. Damals haben sie Geschichte im Minutentakt gemacht. In jedem Satz ein neuer Krieg oder ein gigantischer Zusammenbruch. Die Daten auswendig lernen. Der Niedergang des Imperiums und der Aufstieg der Waschmittel. In seiner Klasse sitzt ein Junge, der fast jeden Tag ein paar Seiten aus seinem Geschichtsbuch ißt. Und zwar so, er legt das aufgeschlagene Buch unter dem Tisch auf seinen Schoß und zerknittert heimlich eine Seite, trennt sie vorsichtig aus dem Buchrücken, mit sowenig Geknister wie möglich. Dann ist seine Strategie, erst mal abzuwarten, bevor er unter gedämpftem Hüsteln seine Faust mit der zusammengeknüllten Seite zum Mund führt, ein Wissen, ein Bissen. Dann stopft er sich die Seite mit den winzigen gedruckten Zeichen und den auswendig gelernten Daten rein und verleibt sie sich in aller Ruhe ein. Erwartet noch ein bißchen. Läßt die Seite im Mund liegen. Dann kaut er sie langsam und vorsichtig und nicht ganz und möglichst leise, indem er darauf achtet, daß die Zähne nicht aufeinanderkommen, und Cotter versucht sich vorzustellen, wie das schmeckt, die ganzen Punkte und Kanten des Papiers mit Spucke getränkt, zunehmend weich und schlaff und vollgesogen, damit man auch leicht schlucken kann. Der Junge schluckt nicht so leicht. Man sieht seinen Adamsapfel hüpfen, als hätte er gerade ein Flugzeug an fremden Gestaden landen lassen.
    Krieg und Leichen, iß dein Breichen.
    Rosie ist jetzt unter der Dusche. Er sitzt auf seinem Bett und hört, wie das Wasser drüben an die Wand prasselt, und er denkt an das Spiel. Er erinnert sich an Einzelheiten, von denen er gar nicht wußte, daß er sie gesehen oder gehört hat, Leute auf der Ausgangsrampe – er sieht Hemdfarben und hört Stimmen, die ihm wieder einfallen. Ein Polizist zu Pferd, glänzende Stiefel und Tierschweiß, und er hört das Wasser an die verzinkten Wände der Dusche prasseln, der klappernden, fleckwandigen Dusche, die irgendwer Vorjahren im Bad eingebaut hat.
    Es ist völlig eindeutig, wenn sein Vater hereinkommt, das Singen der Angeln, wenn die Tür langsam aufgeht, und wie er keinerlei Geräusch aus dem Flur mit hereinbringt – kein Ausschütteln der Kleider, kein schwerer Atem vom Treppensteigen. Nicht daß man ihn gar nicht hörte. Er schafft es, sich an der Tür bemerkbar zu machen, hörbar, vielleicht ist es nur die Anspannung eines Mannes, der auf einem Linoleumboden steht, oder eine Stimmung, die von seinem Körper ausgeht, eine Straffheit, die mitteilt, daß er zu Hause ist.
    Cotter sitzt auf dem unteren Bett und wartet. Sein

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