Untitled
irgend etwas brauche. Aber da hielt mich Donna Filippa La Lumìa auf und fing an, mir alles über ihre Hüftschmerzen zu erzählen. Schließlich machte ich mich von ihr los und ging in die Sakristei. Der Priester war nicht da. Dann rief ich unten von der Treppe her, die in seine Wohnung hinaufführt, nach ihm, aber er antwortete nicht. Ich machte mir Sorgen, stieg hinauf. Im Eßzimmer war er nicht. Da ging ich ins Schlafzimmer… Ogott, ogott, ogott, wie ich mich schäme! Eine Feuerlohe bin ich ja vor Scham! Ogott, ogott, was für eine Pein!«
»Romildù, das darfst du nicht sagen.«
»Die Schlafzimmertüre ging zu. Ich drehte mich um, weil ich an einen Windschlag dachte, an einen Durchzug, irgend so was… Padre Carnazza hatte sich hinter der Türe versteckt, das war der Grund, weshalb ich ihn nicht gesehen hatte, und jetzt stand er vor mir… nackt! Ogottogottogottogott!«
Cavaliere Brucculeri sprang vom Bett auf, und zwar mit solch einem Satz, daß er sich die Hörner beinahe an der Decke abgebrochen hätte. »Diese Schmach hat er dir angetan?«
»Noch schlimmer, Lollò, noch schlimmer!«
»Noch schlimmer?!«
»Ja, Lollò! In der Seele hat er mich beleidigt, in der Seele!«
»Laß die Seele jetzt beiseite, Romilda! Und antworte mir ganz genau: hat er's geschafft? Hat er's geschafft, dieser Stinkbalg von Priester, dich zu dem Najaduweißtschon zu bringen? Was? Hat er's geschafft?« Die Antwort war ein Weinkrampf.
Nachdem Mittag vorbei war, begann Giovanni, Appetit zu verspüren. Genauer gesagt: Hunger. Er mußte die knapp zwei Kilometer zu Fuß zurücklegen, die zwischen seinem Haus und Vigàta lagen: da würde es ja wohl eine Hosteria geben. Als er zu dem Weg am Steilhang kam, betrachtete er ihn genauer und kam zu dem Schluß, daß es ein Ziegenpfad war, der es erlaubte, bis zur Piazza hinunterzugelangen, auch wenn das nicht ganz leicht sein würde. Und während er den Pfad hinunterkletterte, mußte er sich mehrmals an Erikazweigen festhalten, die ihm in die Handfläche und in die Finger schnitten.
Blutstropfen fielen ins Gebüsch. Als er ans Meeresufer gelangt war, sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen und die Füße ins Wasser gesteckt hatte, tauchte er seine Hände ins Wasser ein, um das Blut zu stillen, das ihm auch das Hemd ein bißchen beschmutzt hatte. Mit ziemlich forschem Schritt gelangte er in den Ort, in dem er geboren und wohin er nie wieder zurückgekehrt war. Aber er fühlte sich innerlich nicht bewegt. Die Meeresluft verlieh ihm Flügel.
Gigi Piràn hatte ihm geschrieben:
»In Montelusa sorgen die öffentlichen Gebäude, die Präfektur, das Finanzpräsidium, die staatlichen Schulen und die Gerichte noch für eine gewisse Bewegung in der Stadt, wenn auch gewissermaßen mechanisch: inzwischen sprudelt das Leben anderswo. Industrie, Handel, also die eigentlichen Tätigkeiten, haben sich schon vor längerer Zeit nach Vigàta verlagert, in das schwefelgelbe, mergelweiße, staubige und laute Vigàta, das binnen kurzer Zeit zu einem der bevölkerungsreichsten und geschäftigsten Emporien der Insel geworden ist.« Als er zum Hafen gekommen war, überließ er sich der Erinnerung. Er kannte die Ortschaft, ohne sie jemals gesehen zu haben. Sein Vater und seine Mutter hatten ihm in Genua immer wieder davon erzählt. Nachdem er mit zehn Jahren seine Eltern verloren hatte, hatte er weiter über Vigàta erzählen hören, vom Bruder seines Vaters, Onkel Ciccio, und seiner Frau, Tante Giovanna, die für ihn wie eine Mutter war. Er hatte sich auf einen Poller gesetzt. Den Tauen der Boote nach zu urteilen, war der Ort genau so, wie sein Freund Piràn ihn beschrieben hatte, aber es war Sonntag, und die Boote fuhren mit niedrigen Segeln, es gab kein Hin und Her von Menschen, von Booten und Karren, man hörte kein Fluchen und kein Brüllen, das sonst die Schwefelladungen begleitete.
Hier und da eine kleine Waage, kein Kahn voll bunter Segel. Zwei Fischer flickten ihre Netze, einer der beiden hatte sich mit dem Rücken an ein ineinander verwickeltes Seil gelehnt, ein Matrose sicherte eine Mastspitze. Für einen Augenblick schloß er die Augen, öffnete sie dann wieder, blickte auf das Bild vor sich, und mit leiser Stimme wiederholte er, was er sah, doch mit anderen Worten, Worten, die unversehens auftauchten, mit anderen, mit sizilianischen Klängen.
Was passierte da mit ihm? Was war dieser plötzlich hervorbrechende innere Aufruhr, der ihn verlorengegangene Sprache hinter dem
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