Untitled
sofort erkannt und dessen böse Absicht erahnt. Daraufhin hatte er gleich das Theater mit dem Be ten und der Reue aufgeführt, in der Hoffnung, daß der andere wirklich ein solches Arschloch war, daran zu glauben. Doch so konnte die Sache nicht weitergehen. Wenn dem Signor Posthalter erst einmal die Hörner juckten, konnte sich so etwas auf gefährliche Weise wiederholen. Da mußte Abhilfe geschaffen werden.
Die Orte in der Provinz, die dem Finanzpräsidium von Montelusa unterstanden, waren fünfunddreißig, wie Giovanni aus den Karten Bendicòs ersehen konnte, mit etwas über achtzig Mühlen. Dem Hauptinspekteur von Montelusa unterstanden zehn Unterinspekteure, unter die das gesamte Gebiet aufgeteilt war. Bendicò hatte eine alphabetische Liste seiner Unterinspekteure aufgestellt, und hinter jeden Namen hatte er geschrieben, wo sich die ihm zugewiesenen Mühlen befanden. Keinerlei Windmühlen; die letzte, an der Straße von Montelusa nach Vigàta, war seit langem aufgegeben worden. Keinerlei Wasserradmühlen, von denen es seit jeher wegen nicht ausreichender entsprechender Wasserläufe nur wenige gegeben hatte. Nur zwei Mühlen von etwas über achtzig waren dampfgetrieben, alle anderen dienten zur Niedrigmahlung, mit paarweisen Mühlsteinen, die durch Pferde unterm Joch betrieben wurden. In Reggio Emilia und seiner Provinz war die Erinnerung daran fast schon verloren gegangen. Giovanni wurde von so etwas wie einer Woge der Sehnsucht erfaßt, es kam ihm vor, als wäre er weit in die Zeit zurückversetzt worden. Bendicò hatte unter seinen Papieren auch einen Ausschnitt aus der Wochenzeitung »La Concordia« aufbewahrt, die in Montelusa gedruckt wurde. In diesem Artikel, der sich sehr polemisch gegenüber der Regierung äußerte, wurde die Geschichte der Mahlsteuer erzählt: insbesondere hieß es da, daß alle Besitzer von Wassermühlen, die in Sizilien die Aufgabe ihrer Tätigkeit den Behörden mitgeteilt hatten, verpflichtet waren, immer noch die Gewerbesteuer zu entrichten. Ein richtiggehender Mißbrauch. Sie hatten Einspruch beim Finanzpräsidium eingelegt, und das Finanzpräsidium hatte seinerseits dem Ministerium einen Bericht vorgelegt. Dieses zeigte sich unnachgiebig: die Steuer müsse trotzdem entrichtet werden, wenn nicht in Naturalien, dann eben in Geld. 1872 war die Mahlsteuer verzehnfacht worden, als Folge davon stieg der Brotpreis. Daraufhin fand unter den Fenstern der Präfektur von Montelusa eine gewalttätige Demonstration statt, die mit vier Toten und achtzehn Verwundeten endete. Die Spannung, nicht nur auf der Insel, wuchs, und am 10. Dezember desselben Jahres schaffte die Regierung die Mahlsteuer ab. Nach genau fünf Tagen wurde sie wieder eingeführt. Die Wut über diese unverschämte Frotzelei entlud sich auf fürchterliche Weise, wurde aber entschlossen niedergeschlagen. Das Ergebnis waren zwölf Tote und vierzig Verwundete. Zum jetzigen Zeitpunkt, schloß »La Concordia«, gärt die Unzufriedenheit der Bevölkerung unterirdisch. Schließlich äußerte das Blatt die Vermutung, daß die Ermordung des Hauptinspekteurs Tuttobene von blindem Groll gegen den Repräsentanten eines nur Hunger bringenden Staates diktiert worden sei.
So schloß der Artikel, aber neben den Satz über die Ermordung Tuttobenes hatte Bendicò ein Ausrufungszeichen mit blauem Stift gesetzt.
Was war der Sinn dieses Kommentars? Er beschloß, nicht weiterzulesen. Er ging in sein Schlafzimmer hinauf und bezog die Matratzen mit den Bettlaken der Witwe. Die Lektüre der Papiere hatte ihm den Appetit verdorben, er aß nur ein paar Früchte von denen, die Michilinu gepflückt hatte. Es wurde dunkel und er zündete die Lampe an. Zu früh zum Schlafengehen. Er nahm einen Briefbogen, einen Kopierstift und fing an zu schreiben: »Tante und vielgeliebte Mama…«
»Signor Bovara!«
Als er die Stimme hörte, führ er auf seinem Stuhl zusammen. Sie kam aus der Nähe der Türe, die offen gebliebenen war. Er stand auf und verharrte an der Türschwelle. »Wer ist da?«
»Freunde.«
Er konnte nur zwei Schatten erkennen, nicht weit von ihm entfernt. »Was wollt ihr?«
Er hatte keine Angst, aber diese Störung kam ihm ausgesprochen ungelegen.
»Uns schickt Don Cocò Afflitto, der hat sein Haus hier, gleich nebenan. Er würde gerne die Ehre haben, Sie persönlich kennenzulernen. Don Cocò läßt fragen, ob Sie ihn beehren wollen.«
»Was heißt beehren?«
»Ob Sie seine Einladung annehmen, heute abend mit ihm zu
Weitere Kostenlose Bücher