Untitled
angesichts dessen, was es heißt, vom Gleichen zu sein. Ich selbst, ich bin weit in meinen Achtzigern, werde das nicht mehr schauen dürfen. Vielleicht ja meine Enkel. Aber ich träume heute schon von den Möglichkeiten, denn meine Radiotelepathie betrifft ja nicht nur die menschlichen Apparate – denken Sie an Tiere: Erfahren, wie es sich anfühlt, für eine Schwalbe, das Fliegen. Eine Giraffe, et cetera.
Ich unterbrach ihn mit meinem: Wie kamen Sie auf die Idee – waren Sie dabei sehr verliebt?
Und er: Ja. Die Idee zur Radiotelepathie kam mir nach der ersten Begegnung mit meiner Frau.
Dann entstand eine Pause. Da wir über Skype kommunizierten, gab es kein Rauschen, kein Knacken in der Leitung, das die früheren Überseegespräche noch als fragil ausgewiesen hatte. Mit einem Mal fuhr er fort: Ich wundere mich und zugleich auch nicht, dass Ihnen dieser Film nicht einfallen will. Es ist ein deutscher Film, UFA , aus unseliger Zeit. Ah, Sie kennen den Opfergang nicht. Veit Harlan war der Regisseur. Joseph Goebbels, das ist verbrieft, fand den Film nicht nur missraten, sondern verkommen. Konnte ihn aber nicht mehr verhindern. Man ist heute ja der Ansicht, eine Farce wie Inglourious Basterds sei badass. Schauen Sie sich Opfergang an – dann wissen Sie, was badass ist.
Wir verabschieden uns. In seinem Alter weiß man nun wirklich nicht, für wie lange.
Als ich das Verlagsgebäude verlasse, sind die Leute von der Plakatwerbung damit beschäftigt, weiße Poster in den Leuchtkästen zu befestigen. Sie werben für eine Ausstellung, die Maxim mit anderen Galeristen im Haus der Kulturen der Welt eröffnen wird. Das Konzept sieht Exponate und Installationen an der Schnittstelle zwischen Mode und Kunst vor. Auf dem Plakat ist nichts weiter zu sehen als schwarze Buchstaben, ein Zitat von Martin Margiela: We rather believe in an evolutionary process than in radical change. Ich fotografiere mit dem iPhone und leite das Bild an Maxim weiter. Im Gegenzug lädt er mich spontan zum Abendessen im Kreis der Familie ein. Als ich nach der unendlichen Taxifahrt im Grunewald eintreffe, steht er mit einem bedrückten Gesichtsausdruck im Rahmen der Haustür. Katja hat es soeben erfahren: Frank Giering ist tot. Als die Kinder im Bett sind, weinen wir alle. Und so schlimm es ist, ich finde das sehr schön. Wir können uns nicht trennen, ich bleibe über Nacht, und als Katja sich zurückgezogen hat, suchen Maxim und ich in ihrem Arbeitszimmer nach dem Opfergang. Maxim hat ihn vor langer Zeit mit ihr zusammen angesehen, sein Gedächtnis ist bekanntermaßen schlecht, aber so, dass ich immer einen Restverdacht hege, er tut bloß so. Ich schaue mir das Durcheinander auf Ks Schreibtisch an und mit einem Mal taucht das Wort liebevoll auf. Ja, ich schaue liebevoll auf Katjas Stifte und Zettel und auf ihren Computer. Ich frage mich, ob das so ist, weil ich Katjas Arbeitsplatz mit dem von Julia assoziiere. Weil ich so verliebt bin in Julias Gehirn.
Als ich aufstehe, sehe ich auf dem Haufen meiner Kleider eine goldene DVD , die mit weißem Edding beschriftet ist. Die muss Maxim mir hingelegt haben, als ich schon schlief. Das Haus ist leer. In der Küche macht die Haushaltshilfe ihre Geräusche. Die Amseln zwitschern aus dem dunklen Eibengebüsch. Klammheimlich ziehe ich die Türe ins Schloss.
Weil ich mich dringend umziehen will, schaue ich noch im Goldenen Reiter vorbei. Die Tür zu meinem Zimmersteht einen Spalt offen, die Rezeption war verwaist, ich ahne nichts Gutes. Auf meinem Bett rutschen zwei unförmige nackte Menschen aufeinander herum. Ich halte mir die Augen zu und gehe rückwärts, aber es ist schon zu spät: Der eine Mensch kommt auf mich zu und streckt mir seinen Ellenbogen entgegen, den ich seiner Ansicht nach wohl ergreifen soll, wie zum Gruß: Ich bin der Boris! In einem Comic bestünden seine Augen aus konzentrischen Kreisen in Rot und Grün.
Hau ab, sage ich in für meine Verhältnisse ungewöhnlicher Heftigkeit. Und gehe im selben Moment.
Muldensteinstrasse
Maxim hat mir Geld gegeben, damit ich mir einen Makler nehmen kann. Gleich die erste Wohnung, die der mir zeigt, gefällt mir ausgesprochen gut. So gut, dass ich es zuerst nicht fassen kann: zwei sehr große und symmetrisch angelegte Zimmer, eine schmucklose Küche mit allem, was ich seit Längerem schon nicht mehr brauche. Das Beste aber ist das Bad. Seit ich reise, frage ich mich, weshalb die zweckdienlichen wie komfortablen Badezimmer nur in Hotels vorzufinden sind.
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