Untitled
In den meisten Wohnungen, die ich kenne oder selbst bewohnt habe, ist das Badezimmer der scheußlichste Raum. Man tritt dann ein und fühlt sich abkommandiert: duschen oder pinkeln – wird’s bald? Dieses Badezimmer hingegen ist geradezu riesig groß. Man nimmt die sogenannte Sanitärausstattung erst auf den zweiten Blick wahr.
Warum ist denn das Badezimmer so schön groß?
Der Makler zwinkert: Weil man auf den Partys in diesem Viertel die meiste Zeit im Badezimmer verbringt.
Überhaupt dieses Viertel: das reinste Idyll! Für Berliner Verhältnisse extrem klein und aus der Satellitenperspektive betrachtet wie ein Tortenstück geformt, verläuft einmal quer hindurch und somit auf den direkt angrenzenden Park zu die schöne Muldensteinstraße. Erinnert das Straßenbild ansonsten etwas an Hamburg und dann wieder Köln, erstrahlt die Muldensteinstraße besonders an ihremtalwärts sich neigenden Ende in geradezu Haidhausener Pracht. Die Fassaden der Häuser aus der Gründerzeit wurden bis aufs i-Tüpfelchen saniert und in den historischen Farben bemalt, beim ungläubig dreinschauenden Hinauf und wieder Herunter und gleich wieder Hinaufwandeln des Boulevards fühlt man sich wie in einer Dekoration aus Playmobil 1900. Zu diesem schönen Eindruck verleitet auch die eben dort entlehnte, eher monothematisch zu nennende Ladenkultur. In New York lässt sie sich beschreiben durch die Abfolge Citibank, Duane Reade, Citibank, Vitamin Shoppe, Duane Reade. In der Muldensteinstraße wird diese Sequenz durch die Einzelhändler transponiert: Blumenladen, Kindermode, Pizzeria, Buchladen, Thai, Café, Kindermode, Gartenmode und so geht es dahin. Alles sieht gleich aus – aber gleich gut. Die Männer sehen sich zum Verwechseln ähnlich, für ihre Frauen, die sich mehr oder weniger überwiegend für die Wasch-und-Rubbel-Frisur entschieden haben, muss es manchmal so sein, als hätten sie einen dunkelblauen Passat auf einem Ikeaparkplatz abgestellt und während des Einkaufs vergessen, wo denn genau. Viel Spaß beim Suchen!
Ich setze mich in ein Café und lausche den Gesprächen. Wie in einem richtigen Dorf geht es ausschließlich um Privates. Um Klatsch und um wer mit wem, warum und wann denn eigentlich. Und ich denke: Ja! Ja! Ja! An diesem Kurort werde ich lange Zeit bleiben. Ich fühle mich zum ersten Mal seit so vielen Jahren aufgehoben und daheim – ich komme ja vom Land. Natürlich hat diese überbordende Harmonie und Schönheit auch etwas Ambivalentes, da hat Julia schon recht, die ebenfalls hier zu Hause ist. Meine Therapeutin findet den Umzug gut: Sie fangen an, Grenzen zu ziehen. Julia findet das auch gut (dass ich jetzt im selben Viertel wohne wie sie).
KüPa
Es ist das Jahr, in dem es viele Monate lang geheißen hat, dass es dieses Mal nichts mehr werden wird mit dem Sommer. Dass der Sommer nicht mehr kommt. Und dann kommt er plötzlich. Und wie! Als ich am frühen Morgen die Muldensteinstraße hinuntergehe, stoße ich mit der Stiefelspitze gegen ein herumliegendes Brötchen, das dadurch zu Staub zerfällt. Ich setze mich vor ein Café und entwerfe auf dem iPad eine Einladung für eine Wohnungseinweihung, die ich an allerhand Leute verschicke. Die erste Antwort bekomme ich von Julia, die bedauert, nicht kommen zu können. Sie befürchtet einige der Anwesenden zu kennen und dass diese dann falsche Schlüsse ziehen könnten. Damit meint sie freilich die richtigen. Aber sie fragt, ob sie nicht etwas eher an dem Samstag vorbeikommen könnte. Ich meine: Was für eine Frage! Natürlich! Na klar.
Es ist ein extrem seltsames Gefühl, als sie dann vor meiner Tür steht. Aufrecht, abwartend, gesammelt, wie man so sagt, ich ziehe sie freudig herein. Sie presst sich mit dem Rücken an die Wand und schaut mich aus ihren schönen Augen an. Und dann lachen wir beide und sie sagt: Na? Und da ist der Goldzahn. Ich freue mich so sehr. Julia ist ja ein sehr neugieriger Mensch, trotz dieser mich manchmal an den Rand meiner Kräfte bringenden Schüchternheit. Sie inspiziert die Räume und ich kann fühlen, was in ihr vorgeht: Ich habe alles, wirklich alles weiß streichen lassenund es gibt auch nur weiße Möbel – sie findet das schön und sie würde sehr gerne hier leben mit mir. In der Küche entdeckt sie die Kristalle und die Präzisionswaage mit Digitalanzeige und sie fragt mich mit ihrer schönen Hand auf die Substanz weisend, was das denn sei? Weil ich fühlen kann, dass sie es tatsächlich nicht weiß, erkläre ich ihr, dass es sich
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