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existiert hat. Jetzt weiß Luigi mit schmerzhafter Gewißheit, daß das Blut in seinen Adern das Blut seines Vaters ist. Die Vertauschung des Sohnes in der Wiege hat niemals stattgefunden: wenn Luigi jetzt noch einmal die Geschichte erzählen sollte, die ihm, als er klein war, das Hausmädchen Maria Stella erzählt hat, würde er diese Geschichte ohne jedes Zögern als »Märchen« bezeichnen.
DER ABEND DER URAUFFÜHRUNG
Der Sturm der Entrüstung und der Beschimpfungen, der im Teatro Valle in Rom am Abend des 9. Mai 1921 nach der Uraufführung der Sechs Personen durch die von Dario Niccodemi geleiteten Schauspielertruppe losbrach, ist viele Male erzählt und geschildert worden. Adriano Tilgher schrieb in seiner Rezension in der römischen Tageszeitung »Il Tempo« am nächsten Tag:
»Viele, sehr viele Vorhänge am Ende des ersten und des zweiten Aktes, für die Pirandello, ich weiß nicht, wie oft, an die Rampe gerufen wurde. Doch, um die Wahrheit zu sagen, wurde dieser Erfolg von einer Minderheit gegenüber einem völlig desorientierten, ratlosen Publikum durchgesetzt, das im Grunde aber durchaus verstehen wollte. Doch beim dritten Akt, dem schwächsten der drei, der völlig absurd endet, brach ein Sturm los, dem die Befürworter dieser Arbeit aber tüchtig Paroli boten. Und so endete ein Abend, der eine wirkliche Schlacht für alle war, für den Autor, für die Schauspieler, für das Publikum und auch für die Kritiker.«
Eindeutig schreibt Tilgher die Verantwortung für den Absturz dem dritten Akt zu, den er als schwach, absurd und vor allem redundant beurteilt:
»… der dritte Akt tritt im Grunde auf der Stelle, auf der Stelle des zweiten, er erschöpft sich in der wortreichen Diskussion um eine ästhetische These, die in ihrer Neuheit nicht wirklich brillant ist: daß das Leben nicht das Theater ist.«
Viele Jahre später schreibt Peter Szondi aus seiner Sicht, der dritte Akt sei ein »pseudodramatischer Schluß«.
Darüber wäre noch viel zu sagen, über den viel diskutierten dritten Akt, aber dafür ist hier nicht der Ort. In Wirklichkeit erzählt uns Tilgher (der später einmal der sein wird, der Pirandellos Theater mit einer philosophischen Theorie ausstattet), wenn er von einem »desorientierten, ratlosen« Publikum spricht, nur den halben Skandal.
Es stimmt zwar: die Zuschauer waren anfangs desorientiert, als sie beim Betreten des Zuschauerraums sahen, daß der Vorhang offen und auf der Bühne auch nicht der Hauch von einem Bühnenbild zu sehen war. Einige waren überzeugt, daß die Aufführung verschoben worden sei, auch weil ein Bühnenarbeiter irgend etwas festnagelte. Zu jener Zeit machte die Tatsache, daß man ins Innere einer Theatermaschinerie blicken und beobachten konnte, was hinter den Gassen vor sich ging, nicht neugierig, sondern verstörte, verursachte Unbehagen. Natürlich wandelte sich die anfängliche Desorientiertheit der Zuschauer in Ratlosigkeit, als sie vom Theaterdirektor die provozierenden Worte hörten:
Was soll ich denn machen, wenn…es mit uns schon soweit gekommen ist, daß wir Stücke von Pirandello auf die Bühne bringen, und der, der sie versteht, ist tüchtig, Stücke, die absichtlich so gemacht sind, daß weder die Schauspieler noch die Kritiker, noch auch das Publikum jemals richtig zufrieden sind?
Die Haltung des Publikums wurde dann sogar noch schlimmer, als die sechs Personen auftraten. Als sie hörten, daß sie durch die hintere Türe des Zuschauerraums hereinkamen, dieselbe, durch die sie selbst hereingekommen waren, mußten sie sich in ihren Theatersesseln umdrehen, was bedeutete, daß sie gezwungen waren, sich gegen die Orientierung des Zuschauerraums zu verhalten, so als wären sie gezwungen worden, eine Zeile in einem Roman zu lesen, die vom Autor absichtlich auf dem Kopf gedruckt wurde. Und des weiteren: diese Personen beanspruchten den Platz, der für die Zuschauer reserviert ist, sie gingen durch den Korridor zwischen den Reihen, sie blieben stehen, um mit den Zuschauer zu diskutieren, und das gewissermaßen auf den Füßen der Zuschauer in der ersten Reihe. Die ersten gewalttätigen Reaktionen kamen von den Zuschauern, die ihr »Territorium« verteidigen wollten, das war eine Revolution, der Umsturz einer festgelegten Ordnung.
Irgendwann wurde die Auseinandersetzung zwischen der Minderheit der Befürworter und der Mehrheit der Andersdenkenden handgreiflich, Fausthiebe flogen, der Journalist Orio Vergani tat sich
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