Untitled
lenkte mit ruhiger Hand Geldmengen und Menschen.
«Macht nichts. Ich rufe Claude Amery an.»
Claude, das war die naheliegendste, weil sicherste Karte, die sie ausspielen konnte. Ein Wink genügte, und Claude würde eine Verabredung mit einem reichen Theaterdirektor absagen. Aber es war sehr schwierig, wegen Claude eine Szene anzuzetteln.
«Ja, das ist eine gute Idee. Warum nicht? Er scheint ja nie zu wissen, was er mit seiner Zeit anfangen soll.»
«Claude ist immer bereit, eine Verabredung für mich platzen zu lassen.»
«Was du nicht sagst», erwiderte Harwell und stand auf, um die Suche nach der schwarzen Krawatte wieder aufzunehmen. «Ich würde nicht meinen, daß es da allzuviel gibt, was er platzen lassen kann. Er glaubt, du wirst mich schon becircen, sein lausiges Stück zu unterstützen. Irrtum! Aber was soll's, solange er dich amüsiert.»
Von was für einer rührenden, wahnsinnig machenden Blindheit Männer doch sein konnten! Die Sirene ließ ein kleines geheimnisvolles und herausforderndes Lächeln um ihre Lippen spielen. Unglücklicherweise war es an Odysseus aber völlig verschwendet. Der hatte seine Krawatte nun gefunden und begann, das Kinn in die Höhe gereckt, sie sich umzubinden.
«Das Stück ist wirklich gut, Laurence. Hast du es gelesen?»
«Mein liebes Kind, Amery würde selbst dann kein brauchbares Stück zustande bringen, wenn sein Leben davon abhinge. Er hat nicht den Mumm. Er kann zwar alles schönreden, aber er weiß auch, daß ich ihm nicht zuhören würde. Soll er sich ruhig bei dir austoben, der hoffnungslose Fall. Ich weiß nicht, wo du die Geduld mit diesen laschen Jüngelchen hernimmst. Was steckt dahinter, irgendein irregeleiteter Mutterinstinkt, oder was?»
«Nein, das bestimmt nicht!» stieß sie schärfer, als es dem Anlaß angemessen war, hervor und beobachtete mit Vergnügen, wie er rot wurde.
«Das habe ich nicht gemeint», sagte Harwell kurz.
«Willst du das alles wieder aufrollen? Dann sag es geradeheraus, ich hasse diese Anspielungen.»
«Ich hatte nichts Derartiges vor. Du weißt doch genau, was ich mir wünsche, Rosamund, aber wenn du anders darüber denkst, hat es keinen Sinn, sich zu streiten.»
«Du tust immer so, als ob ich herzlos und egoistisch wäre, Laurence. Aber so ist es nicht. Ich wäre doch bereit, jedes Opfer zu bringen. Aber verstehst du mich denn nicht?»
«Ich weiß es doch, Darling, ich weiß. Herr im Himmel, ich bin der letzte, der dich zu irgend etwas zwingen würde.»
«Ich mache mir solche Sorgen, Laurence. Diese Sache gibt mir das Gefühl, unsere Liebe entgleitet uns. Ich will, daß du mich um meiner selbst willen liebst, nicht wegen … wegen …»
«Aber, Liebste, natürlich liebe ich dich um deiner selbst willen», sagte er verzweifelt und kam zu ihr herüber. «Wie kannst du nur etwas anderes glauben? Oh, dieses verdammte Telefon! Rosamund, bitte …»
«Sicher?» Sie lächelte über seinen Kopf hinweg, als er erregt in einer Geste der Kapitulation vor ihr am Bett auf die Knie gefallen war, derweil der Apparat schrill weiterklingelte.
«Ganz sicher. Weißt du das denn nicht? Glaub mir doch. Was kann ich noch tun? Ich habe es doch längst bewiesen.»
Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. «Solltest du nicht ans Telefon gehen?» sagte sie kalt.
Die Stadt war an diesem Morgen in einer eigenartigen Stimmung. In die Trauer der Menschen mischte sich eine aufgeregte Geschäftigkeit. Sie bewegten sich zielstrebig, gleichzeitig aber waren ihre Gedanken mit etwas anderem beschäftigt, als ob sie am Ende ihres Weges etwas Wichtiges erwartete, von dem sie noch nicht wußten, was es war. Harriet Wimsey schlenderte langsam die Oxford Street entlang, und ihr Schriftsteller-Ich war damit beschäftigt zu ergründen, was es war, das die Menge heute so ganz anders aussehen ließ als an normalen Tagen. Fast alle gingen noch in den üblichen Farben, dennoch konnte sie die Atmosphäre eines Trauerzugs deutlich fühlen – die eines dörflichen Trauerzugs. Das war es. London hatte sich über Nacht in ein großes Dorf verwandelt, in dem jeder das Leben des anderen kannte und auch wußte, was der andere dachte. Die Passanten hier in der Oxford Street zum Beispiel: Man kaufte Schwarz, dachte daran, Schwarz zu kaufen, überlegte, wieviel Schwarz man sich wohl leisten könne oder mit wie wenig Schwarz man auskäme, um sein menschliches Bedürfnis nach Selbstdarstellung zu befriedigen und gleichzeitig dem Anstand Genüge zu tun. Auf der anderen Seite,
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