Untitled
Figur mit Hang zur Selbstzerfleischung, deren Qualen – und die Qualen, die sie bei Harriet nach sich zogen – von Peter mit den Worten kommentiert worden waren: «Was soll's, wenn dabei ein gutes Buch herauskommt?» Sie war selbst von der Dunkelheit und Verzweiflung in dem Buch, das sie nun schrieb, überrascht gewesen. Offensichtlich war dies ein Thema, dem sie sich erst hatte zuwenden können, als sie selbst sicher fernab von «des Ozeans Gewalten» ankerte. Aber mit dieser neuen Sicherheit hatten sich die Spielregeln verändert: Das Schreiben war ihr nun nur noch etwas wert, wenn etwas sehr Gutes dabei herauskam. Aber wie gut war denn «sehr gut»? Da gab es keine Grenzen.
Wenn Peter der Meinung war, daß die Aufgabe darin bestand, einen Traum von Gerechtigkeit zu entwerfen, ein Ideal, das in einer ganz und gar ungerechten und gefährlichen Welt lebendig gehalten werden mußte, dann hatte sie zuallererst den Bruch der natürlichen Ordnung zu vermitteln, die Abscheulichkeit des Mordens, «ja, schnöder Mord, wie er aufs beste ist», die unerträgliche Gewalt, die den gerechten Erwartungen angetan wurde. Harriets Leserschaft müßte den verzweifelten Wunsch empfinden, die Ordnung wiederhergestellt zu sehen, nicht oberflächlich wie beim Puzzlespiel, sondern als ein tiefes, lebenswichtiges Bedürfnis. Zuallererst mußte sie also aus der Leiche im Wasserreservoir mehr machen als nur eine Denksportaufgabe. Das Opfer mußte Mitleid erregen, ein wirkliches Opfer sein.
Im wirklichen Leben, das wußte Harriet, besaß ein Mord diese entsetzliche Qualität. Auch wenn so unangenehme Menschen starben wie Philip Boyes, ihr einstiger Geliebter … Harriet stellte erstaunt fest, daß sie Philip fast vergessen hatte. Sein Gesicht, seine Stimme, auch seine aufdringlichen Forderungen waren in ihrem Gedächtnis schon verblaßt. Wenn sie sich nun überhaupt an ihn erinnerte, dann sah sie in ihm nur mehr den Grund dafür, warum sie selbst in großer Gefahr ge schwebt und warum sie Peter so viel zu verdanken hatte. Und Rosamund – die arme Rosamund! Harriet hing immer noch demselben Gedankengang nach und stellte fest, daß sie für die lebendige Rosamund nicht viel Sympathie empfunden hatte. Als sie noch lebte, war sie in allem eine Verkörperung dessen gewesen, was Harriet am Verhalten einer Frau ablehnte. Daß sie nun tot war, änderte die Sache. Ihr Tod eröffnete einem die Möglichkeit, den Gefühlen der aristotelischen Katharsis, dem Mitleid und der Furcht, freien Ausdruck zu geben. Und schließlich hatte Rosamund schon zu Lebzeiten etwas Tragisches an sich gehabt. Harriet fragte sich, ob sie die Mißbilligung, die diese alberne Frau bei ihr ausgelöst hatte, nicht vielleicht deshalb so deutlich empfand, weil sie deren Lebensumstände für sich selbst so stark ablehnte.
Jetzt aber – täuschte sie sich, oder klapperten Miss Bradys Stricknadeln geräuschvoller denn je? – frisch ans Werk.
Den ganzen Vormittag würde sie durcharbeiten und dabei ihr Bestes geben. Jetzt war sogar schon ihre Arbeit dem prüfenden Blick von Peter ausgesetzt. Wo er wohl hingefahren war? Sie vermißte schmerzlich das Gefühl, zu wissen, wo er war, diese nicht greifbare Gewißheit, daß er sich irgendwo im Haus aufhielt … «Nun ist es aber genug!» schalt sie sich böse und zwang sich zur Konzentration.
Der erste Mensch, den Harriet erkannte, als sie sich ins Gedränge im Foyer des Sheridan-Theaters stürzte, war Henry Drummond-Taber, der sich mit Sir Jude Shearman unterhielt. Dort drüben sprach Miss Gertrude Lawrence mit Noël Coward. Wenn es je eine Berechtigung gab, das Gesellschaftsleben als Glitzerwelt zu bezeichnen – diese Gesellschaft hier glitzerte. Die roten Samttapeten und die eindrucksvollen Kronleuchter im Foyer, das Funkeln der Champagnerkelche, die auf Silbertabletts herumgetragen wurden, die Fotografien der Stars von Bühne und Leinwand, die in silbernen Rahmen an den Wänden hingen, dies alles ließ die Gäste selbst erstrahlen. Wie es erwartet wurde, trug man ausnahmslos Schwarz, auch wenn der neue König die Trauerzeit auf sechs Monate verkürzt hatte. Wenn schon Schwarz vorgeschrieben war, dann waren wohl eine Handvoll Pailletten und etwas Straß als läßliche Sünde aufzufassen. Harriet hatte ihren leichten Widerwillen unbarmherzig unterdrückt und trug einen ihrer weißen Kragen. Ihre Rubine hatte sie zu Hause gelassen: Die Party von Sir Jude würden nicht nur neue, sondern auch genauso viele alte Freunde besuchen, und
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