Untitled
Vorhang ab, der sich dann öffnete und den Blick auf eine Szene in einem Bahnhofswartesaal freigab.
Die zweite Besetzung war zwar zu Beginn deutlich nervös ge
wesen, hatte aber alles wunderbar bewerkstelligt und war mit stürmischem Applaus belohnt worden. Im Taxi nach Hause, in das ihr Henry Drummond-Taber mit betont galanter Geste geholfen hatte, stellte Harriet fest, daß sie den Abend in gewisser Weise sehr genossen hatte. So ohne Begleitung auszugehen kam ihr vor, als hätte sie auf einen Kurzbesuch in ihrem alten Leben hereingeschaut. Peter war nicht mehr erschienen. Sie erwartete, ihn zu Hause anzutreffen, aber er war noch nicht zurück. Verwundert über die Heftigkeit ihrer Enttäuschung, ließ sie sich mit einem Buch vor dem Kamin nieder, um auf ihn zu warten.
Als das Telefon klingelte, war es schon fast Mitternacht. Sie sprang auf, um den Hörer abzunehmen, bevor sich Meredith aus dem Bett quälen würde. «Bitte warten», sagte die Vermittlung. «Ein Anruf aus Frankreich für Sie.»
«Onkel Paul?» wunderte sich Harriet. Dann hörte sie schwach Peters Stimme. Er klang gehetzt.
«Harriet? Hast du noch nicht geschlafen?»
«Nein. Wo bist du, Peter?»
«In einer schummerigen kleinen Pension kurz vor Paris. Ich schaffe es heute abend wohl nicht mehr zurück, und was morgen wird, kann ich noch nicht sagen. Bis jetzt habe ich noch nichts erreicht. Mach dir keine Sorgen um mich, Domina. Geh einfach schlafen. Kommst du noch einen Tag ohne mich klar?»
«Ja, natürlich. Nein, natürlich nicht.»
Er lachte. «Du nimmst mir die Worte aus dem Munde», sagte er. «Ich werde mich nicht länger aufhalten als unbedingt nötig.»
«Peter, kann ich dich im Notfall irgendwo erreichen?»
«Ich denke schon. Das Außenministerium wird mich schon auftreiben. Aber ich bin morgen wieder da, so Gott will!»
«Liebster …» Aber die Verbindung war abgebrochen. Sie
wartete noch ein paar Minuten für den Fall, daß er ihr noch mehr zu sagen hatte und noch einmal anriefe. Dann ging sie traurig zu Bett. Wie lächerlich, schalt sie sich, wie ein blöder Backfisch jemanden anzuhimmeln und sich in Tagträumen zu ergehen, noch dazu, wenn der Angeschwärmte der gesetzlich Angetraute war! Aber sie spürte Peters Abwesenheit wie einen Stich. Ist es doch möglich, auch nach der Eheschließung noch Liebe für den Herrn und Gebieter zu empfinden? Sie erinnerte sich, wie sie diese Frage einmal leidenschaftlich mit Eiluned und Sylvia diskutiert hatte. Sie waren die ganze Liste der Ehepaare in ihrem Bekanntenkreis durchgegangen, ohne zu einem zufriedenstellenden Schluß zu kommen.
Am nächsten Morgen hatte Harriet zwei unerwartete Besucherinnen zu empfangen. Die erste wollte genaugenommen nicht zu ihr. Harriet hätte vielleicht nie von ihr Kenntnis erhalten, wäre sie nicht gegen ihren Willen so empfänglich gewesen für das Läuten der Türglocke, für das Klappern von Schritten in der Halle, für das Zufallen der Eingangstür, als sie geschlossen wurde. Wenn Peter gestern nacht noch in Frankreich gewesen war, konnte er unmöglich vor heute abend zu Hause ankommen. Dennoch ging Harriet sofort nach dem Klingeln zum Treppengeländer, um zu sehen, wer da gekommen war.
Eine Frau stand auf dem schwarzweißen Marmorfußboden in der Eingangshalle und trug ein flaches, großformatiges Paket bei sich, das in Packpapier eingewickelt war. Sie war dezent und flott gekleidet, hielt es aber offenbar nicht für nötig, in Trauer zu gehen: Der Mantel und der Hut waren braun. Warum hatte Meredith sie nicht in den Salon geführt? Die Frau sah sich mit unverhüllter Neugier um, so daß sich schließlich ihrer beider Blicke trafen. Harriet ging die Treppe hinunter.
«Kann ich Ihnen helfen?» fragte sie. «Ich bin Lady Peter Wimsey.»
Zu ihrer Überraschung lief die Frau rot an. «Ach herrje», klagte sie, «Mervyn wird mir die Störung der Oberschicht nie verzeihen. Hätte ich den Lieferanteneingang nehmen sollen? Offensichtlich ja.»
«Mervyn? Sprechen Sie von Bunter? Es tut mir sehr leid, ich glaube, Bunter begleitet Lord Peter. Sie sind außer Haus. Kann ich etwas ausrichten?»
«Ich wollte diese Abzüge hier abgeben. Sie werden dringend erwartet, soweit ich weiß.»
«Selbstverständlich», meinte Harriet und machte eine Handbewegung zum messingbeschlagenen Marmortisch, der an der Wand stand.
Die Besucherin befreite sich von dem Paket. Stille. Beide Frauen, merkte Harriet, brannten vor Neugier: Die Fremde war neugierig auf das Haus, und
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