Untitled
und deinen ewigen Sorgen ins Grab fahren lassen sollen. »Er war so traurig, Junge«, erklärte sie schluchzend. »Traurig wegen Winser. Am traurigsten aber wegen dir. Diese Kat hatte ihm eine Szene gemacht, nehme ich an. Da ist mir Jacko hundertmal lieber. Ich wollte doch nur, daß er mich ansieht, daß er mir was Liebes sagt und mich in die Arme nimmt und mir sagt, wie schön ich immer noch bin.«
»Wo ist er, Mutter? Unter welchem Namen reist er jetzt?« Er hatte sie gepackt, und sie lehnte ihr ganzes Gewicht auf seine Arme. »Er muß dir gesagt haben, wo er hingeht. Er sagt dir doch alles. Er würde seine Nadia nicht im Dunkeln stehen lassen.«
»Ich darf dir nicht trauen. Keinem von euch. Weder Mirsky noch Hoban noch Massingham noch sonstwem. Und Oliver hat damit angefangen. Laß mich los.«
Ledersessel, Pferdebücher, ein Direktorenschreibtisch. Sie waren ins Arbeitszimmer gelangt. Ein Vollblut über dem Kamin, ob von Stubbs, war fragwürdig. Oliver ging zur Fensterbank und fuhr mit der Hand über die Vorhangleiste, bis er an einen staubigen Messingschlüssel stieß. Dann nahm er den fragwürdigen Stubbs vom Haken und stellte ihn auf den Boden. Dahinter war in Tigerhöhe ein Safe in die Wand eingelassen. Er schloß ihn auf und spähte hinein, wie er es als Kind getan hatte, als er noch glaubte, der Safe sei ein magisches Verließ, in dem ein großes Geheimnis versteckt sei.
»Da ist nichts, Ollie, da ist nie etwas gewesen. Nur langweilige Testamente und Übertragungsurkunden und ausländisches Geld, das er von seinen Reisen übrig hatte.«
Heute nichts, damals nichts. Er schloß den Safe, legte den Schlüssel zurück und wandte seine Aufmerksamkeit den Schreibtischschubladen zu. Ein Polohandschuh. Eine Schachtel Patronen, Kaliber 12. Quittungen. Briefpapier. Ein schwarzes Notizbuch, kein Wort auf dem Umschlag. Ich brauche Notizbücher, hatte Brock gesagt. Ich brauche Notizen, Zettel, Terminkalender, hingekritzelte Adressen, Namen, die in Streichholzbriefchen notiert sind, zerknülltes Papier, alles, was eigentlich weggeworfen werden sollte. Oliver klappte das Notizbuch auf: Leitfaden für Gespräche nach dem Essen. Witze, Aphorismen, weise Sprüche, Zitate. Er warf das Notizbuch in die Schublade zurück. »Irgendwelche Pakete für ihn gekommen, Mutter? Päckchen, große Umschläge, Einschreibbriefe, Expreßbriefe? Nichts, was du für ihn aufbewahren sollst? Nichts, was seit seinem Verschwinden für ihn gekommen ist?« Weiteres Material ergeht mit getrennter Post an Ihre Privatadresse, gezeichnet J. I. Orlow.
»Natürlich nicht, Junge. Er bekommt keine Post hierher, höchstens Rechnungen.« Er brachte sie in die Küche zurück und machte Tee; sie sah ihm zu. »Wenigstens bist du jetzt nicht mehr so gemein, Junge.« Sie meinte das als Trost für sie beide. »Er hat geweint. Ich habe ihn seit Jeffrey nicht mehr weinen sehen. Er hat sich meine Polaroid ausgeliehen. Daß ich fotografiere, hast du nicht gewußt, stimmt´s?«
»Was hat er denn bloß mit einer Polaroid gewollt?« - er dachte an Pässe, an Visumsanträge.
»Er wollte Fotos von allem, was ihm teuer ist. Von mir. Von dem Bild, auf dem wir alle zu sehen sind, vom Garten, von allem, was ihn glücklich gemacht hat, bis du ihm das alles zerstört hast.«
Sie wollte, daß er sie wieder in die Arme nahm, und er tat es. »Ist Jewgenij in letzter Zeit mal hier gewesen?«
»Vorigen Winter, Junge. Wegen der Fasane.«
»Aber Tiger hat noch keinen Bären geschossen?« - ein Scherz.
»Nein, Junge. Ich glaube nicht, daß er es mit Bären hat. Die
sind Menschen zu ähnlich.«
»Wer war sonst noch hier?«
»Michail, dieser arme Kerl. Der schießt auf alles. Der hätte auch Jacko abgeschossen, wenn er gekonnt hätte. Es ist so lieb von Jewgenij, daß er ihn an allem beteiligt. Und Mirsky natürlich.« »Was hat Mirsky hier getan?«
»Im Wintergarten mit Randy Schach gespielt. Randy und Mirsky waren dauernd zusammen. Ich habe mich gefragt, ob die beiden was miteinander haben.« »Wie meinst du das?«
»Nun ja, Randy ist ja nicht gerade ein Frauentyp, oder? Und dem reizenden Dr. Mirsky traue ich alles zu. Ich habe ihn beim Flirt mit Mrs. Henderson in der Küche erwischt, falls du dir das vorstellen kannst; er hat sie nach Gdansk eingeladen, da sollte Er gab ihr eine Tasse. Eine Scheibe Zitrone, keine Milch. Er bemühte sich weiter um einen unbeschwerten Tonfall. »Und wie ist Tiger gekommen - letztes Mal -, als er dich besucht hat? Hat Gasson ihn
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