Untitled
verglühten, und die Dämmerung sank noch tiefer herab. Aggie trug Jeans und Lederjacke, die Sachen, in denen sie ausgerissen war. Keine Waffe, weil sie keine Verbindung zu Brocks Familie aufgenommen hatte. Kein Päckchen in Geschenkpapier war für sie im Hotel abgegeben worden, kein dicker Umschlag unterm Sprechfenster der Visumabteilung mit einem barschen »Unterschreiben Sie hier, Mrs. West« zu ihr durchgeschoben worden. Kein Mensch auf der Welt, außer Oliver, wußte, wo sie war, und die Stille hier oben glich der Stille, die sich auf ihr Leben gesenkt hatte. Sie war unbewaffnet und verliebt und in Gefahr, und sie blickte einen einsamen hundert Meter unter ihr in eine kugelsichere Mauer eingebaut war. Hinter der Mauer lag das Flachdach von Dr. Mirskys hochmoderner Festung; für Aggies erfahrenes Auge jedoch war dies nur das übliche Quartier eines Drogenanwalts, mit Bougainvilleas und grellen Außenlampen, Springbrunnen und Videokameras, Schäferhunden und Statuen und zwei Männern in schwarzen Hosen und weißen Hemden und schwarzen Westen, die mehr oder weniger untätig auf dem Vorplatz herumlungerten. Und irgendwo in der Festung war ihr Liebster. Sie waren nach einem ergebnislosen Besuch in Dr. Mirskys sehr legalem Büro im Stadtzentrum hierher gekommen. »Der Doktor ist heute nicht hier«, hatte ihnen ein schönes Mädchen hinter dem malvenfarbenen Empfangstisch mitgeteilt. »Hinterlassen Sie doch bitte Ihren Namen und kommen Sie morgen noch einmal wieder.« Sie hinterließen keinen Namen, aber kaum waren sie auf der Straße, klopfte Oliver seine Taschen ab, bis er den Zettel mit Mirskys Privatadresse fand; er hatte sie sich gemerkt, als er heimlich in die Akte geblickt hatte, die er aus Dr. Conrads Büro gestohlen hatte. Zusammen befragten sie einen ehrwürdigen Herrn, der sie für Deutsche hielt und mehrmals »Dahin! Dahin!« rief, während er vage in die Richtung zeigte. Auf dem Hügel halfen ihnen diverse andere ehrwürdige Herren weiter, bis sie unvermittelt in der richtigen Privatstraße waren und an der richtigen Festung vorbeifuhren und die Aufmerksamkeit der richtigen Hunde, Leibwächter und Kameras auf sich zogen.
Aggie hätte alles dafür gegeben, Oliver in dieses Haus zu begleiten, aber davon wollte er nichts wissen. Er wolle ein Gespräch von Anwalt zu Anwalt führen, sagte er. Sie solle hundert Meter weiter parken und warten. Er erinnerte sie daran, daß sie auf der Suche nach seinem, nicht nach ihrem Vater waren. Und was kannst du schon machen, mit oder ohne Waffe, wenn du wie ein Mauerblümchen danebensitzt? Es ist viel besser, du wartest, ob ich wieder rauskomme, und wenn nicht, schlägst du Alarm. Er nimmt sein Leben in die Hand, dachte sie. Meins auch. Sie wußte nicht, ob sie darüber beunruhigt oder stolz oder beides sein sollte.
Sie parkte an einer verlassenen Baustelle neben einem rosa Lastwagen, auf den eine Limonadenflasche gemalt war, und einem halben Dutzend Volkswagen-Käfer, in denen niemand saß. Man brauchte schon eine technisch hochentwickelte Überwachungskamera, dachte sie, oder einen sehr aufgeweckten Leibwächter, wenn man sie auf diese Entfernung entdecken wollte. Aber wer interessierte sich schon für eine einzelne Frau in einem kleinen braunen Auto ohne Antennen, die in der Dämmerung mit einem Handy telefonierte? Nicht daß sie selbst etwas sagte, ganz und gar nicht. Sie hörte Brocks Botschaften ab, eine nach der ändern. Nat, ruhig wie ein Liverpooler Seekapitän im Sturm, keine Vorwürfe, kein Gezeter: »Charmian, hier ist noch mal dein Vater, es wäre schön, wenn du uns mal anrufen könntest, sobald du diese Nachricht gehört hast, bitte … Charmian, wenn du uns aus irgendeinem Grund nicht erreichen kannst, nimm bitte Kontakt mit deinem Onkel auf … Charmian, wir möchten beide, daß du so bald wie möglich nach Hause kommst, bitte.« Statt Onkel setze der örtliche britische Vertreter ein.
Während sie sich das anhörte, schweifte ihr Blick suchend über die Eisentore, die Bäume und Hecken der Nachbargärten und die sich durch den blaugrauen Smog tastenden Lichter. Und als sie Brock nicht mehr zuhörte, lauschte sie den widersprüchlichen Stimmen in ihrem Inneren, das so in Aufruhr war, und versuchte zu ergründen, was sie Brock schuldig war und was sie Oliver und sich selbst schuldig war, auch wenn es sich bei den beiden letzten Punkten in Wirklichkeit nur um eine einzige Schuld handelte, denn jedesmal wenn sie an Oliver dachte, lag er wieder lachend in
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