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Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown Author
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zum Hotel in den Ohren.
    »Wenn du das nächstemal kommst, bringen wir dich nach Bethlehem«, verspricht Jewgenij, als sie einander wieder einmal umarmen.
    Oliver geht zum Packen auf sein Zimmer. Auf seinem Kopfkissen liegt ein in braunes Glanzpapier gewickeltes Päckchen, daneben ein Umschlag. Er öffnet den Umschlag. Der Brief sieht aus wie eine Schönschreibübung, und Oliver hat das Gefühl, daß er mehrmals geschrieben wurde, ehe eine akzeptable Fassung zustande kam.
    Oliver, Sie haben ein reines Herz. Leider verstellen Sie sich immer. Daher sind Sie nichts. Ich liebe Sie. Zoya.
    Er öffnet das Päckchen. Es enthält ein schwarzlackiertes Kästchen, wie man es in jedem Souvenirladen kaufen kann. Darin liegt ein Herz, das aus aprikosenfarbenem Seidenpapier ausgeschnitten ist. Es klebt kein Blut daran.
    Um nach Bethlehem zu kommen, muß man, sobald die BritishAirways-Maschine in Scheremetjewo ausgerollt ist, schnell aus dem Flugzeug geholt, dann von anderen willfährigen Einwanderungsbeamten in halsbrecherischem Tempo abgefertigt und in eine zweimotorige Iljuschin mit AeroflotKennzeichen gebracht werden, die bereits mit nicht unbekannten Passagieren an Bord ungeduldig darauf wartet, einen in die georgische Hauptstadt Tiflis zu fliegen. Jewgenijs ausgedehnte Familie ist da, und Oliver begrüßt sie en bloc, umarmt die nächsten und winkt den entfernteren zu, und was Zoya betrifft, die am entferntesten von allen ist - sie sitzt mit Paul im hintersten Winkel des Rumpfs, während ihr Mann es sich ganz vorne mit Schalwa bequem gemacht hat -, macht er eine vage Handbewegung in ihre Richtung, die besagen soll, daß er sie, nun ja, sicher, wenn er jetzt so darüber nachdenkt, ja natürlich, in der Tat schon mal irgendwo gesehen hat. In Tiflis gerät man beim Anflug wahrscheinlich in einen fürchterlichen Hurrikan, der die Tragflächen erbeben läßt und einem Sand und Dreck ins Gesicht schleudert, wenn man dann übers Rollfeld zum Terminal rennt. Im übrigen gibt es keine Formalitäten, es sei denn, man versteht darunter die Hälfte aller Honorationen von Tiflis, die in ihren besten Anzügen erschienen sind, und einen geschniegelten Verbindungsmann namens Temur, einen Albino; wie jeder andere in Georgien ist er Tinatins Vetter, Neffe, Patenkind oder Sohn ihrer besten Schulfreundin. Kaffee und Brandy und Berge von Essen stehen in der VIP-Lounge bereit, und ehe es weitergeht, werden erst einmal unzählige Toasts ausgebracht. Ein Konvoi schwarzer Zils, eskortiert von Motorrädern und einem Lkw mit schwarz uniformierten Soldaten einer Sondereinheit als Nachhut, bringt einen dann in hektischem Tempo, freilich ohne die Segnungen des Sicherheitsgurts, über eine schwindelerregende Bergkette nach Westen ins gelobte Land Mingrelien, dessen Einwohner so klug gewesen waren, ihre Frauen vor dem Einfall der Invasoren zu schwängern, und sich daher des reinsten Blutes in Georgien rühmen können, eine Behauptung, die Jewgenij noch mehrmals zufrieden bekräftigt, als der Zil über die schmalen Serpentinen jagt und sich zwischen streunenden Hunden, Schafen, scheckigen Schweinen mit dreieckigen Holzkragen, bepackten Maultieren, entgegenkommenden Lastwagen und riesengroßen Schlaglöchern hindurchschlängelt. All dies in einer Atmosphäre kindlicher Euphorie, angeheizt nicht nur durch den reichlich getrunkenen Wein und den Malzwhisky aus Olivers zollfreier Ration, sondern auch durch die Gewißheit, daß nun nach Monaten des Taktierens die drei speziellen Vorschläge innerhalb der nächsten Tage endlich unter Dach und Fach gebracht werden sollen. Und ist dies nicht Jewgenijs persönliches Schutzgebiet, die Heimat seiner Jugend? Verlangt nicht jedes Wahrzeichen an der gefährlichen Straße nach Bethlehem begeisterte Ausrufe und Freudenkundgebungen von Jewgenijs Frau Tinatin und seinem Bruder Michail am Steuer und allen voran auch von Oliver, dem verehrenswürdigen Gast, für den das alles noch ganz neu ist?
    In einem anderen Auto hinter ihnen sitzen zwei von Jewgenijs Töchtern, und eine davon ist Zoya; sie hat Paul auf dem Schoß, hält ihn mit den Armen umschlungen und drückt ihre Wange an seine, während das Auto holpernd und schlingernd dahinrast. Und auch wenn er sie nicht sehen kann, weiß Oliver, daß sie nur seinetwegen so traurig ist; er hätte nicht kommen dürfen, er hätte aus diesem Projekt aussteigen müssen, er verstellt sich nur und ist deshalb ein Nichts. Doch ihr allwissender Blick kann sein Vergnügen an Jewgenijs

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