Untitled
der Mitte einer Koppel liegt. Drinnen ist es zunächst einmal stockdunkel. Nach und nach erkennt er einen gemauerten Kamin, einen Eisenofen. Es riecht nach Kampfer, Lavendel und Knoblauch. Blanke Böden in den Schlafräumen, an deren Wänden kitschige Ikonen in zerbrochenen Rahmen hängen: das heilige Jesuskind, an der verhüllten Brust seiner Mutter trinkend; Jesus ans Kreuz genagelt, aber so wohlgemut ausgestreckt, als steige er bereits in den Himmel auf; Jesus sicher zu Hause angekommen, sitzend zur Rechten des Vaters.
»Was Moskau verbietet, haben Mingrelier gern«, sagt Hoban für Jewgenij und gähnt. »Und zwar sehr«, fügt er hinzu. Eine Katze taucht auf und sorgt für viel Wirbel. Die melancholische alte Frau im zerbröckelnden Gipsrahmen soll überm Kamin aufgehängt werden. Kinder stehen in der Tür und warten auf die Wunderdinge, die Tinatin aus der Stadt mitgebracht hat. Im Dorf macht jemand Musik. In der Küche singt jemand: Zoya.
»Finden Sie nicht auch, daß sie singt wie eine Ziege?« fragt
Hoban.
»Nein«, sagt Oliver.
»Dann sind Sie in sie verliebt«, stellt Hoban zufrieden fest. Das Fest dauert zwei Tage, aber erst am Ende des ersten Tages kommt Oliver dahinter, daß er an einer Geschäftskonferenz der Dorfältesten hier im Tal teilnimmt. Zuvor erfährt er aber viele andere Dinge. Daß man, wenn man einen Bären erlegen will, ihm am besten ins Auge schießt, weil der ganze Körper mit einem kugelsicheren Überzug aus getrocknetem Schlamm gepanzert ist. Daß es bei einem Fest Sitte ist, Wein auf die Erde zu gießen, um die Geister unserer Vorfahren zu erquicken. Daß mingrelischer Wein aus zahlreichen Traubensorten hergestellt wird, mit Namen wie Koloschi, Paneschi, Chodi und Kamuri. Daß es einem Fluch gleichkommt, jemandem mit Bier zuzutrinken. Daß die Stammväter der Mingrelier niemand anders sind als die sagenhaften Argonauten, die keine zwanzig Kilometer von hier unter Jasons Führung eine große Festung gebaut haben, um darin das Goldene Vlies aufzubewahren. Und von einem wild dreinschauenden Priester, der offenbar noch nie etwas von der Russischen Revolution gehört hat, erfährt Oliver, er müsse, wenn er sich bekreuzige, den Daumen auf zwei Finger legen oder war es umgekehrt, nur den Daumen auf den kleinen Finger? - mit seinen plumpen Magierfingern war er sich da nicht mehr so sicher - und die drei Finger als Symbol der Heiligen Dreifaltigkeit zunächst nach oben richten, dann die Stirn und schließlich die Brust damit berühren, erst die rechte und dann die linke Seite, um nicht, wenn er nach unten sieht, das Teufelskreuz zu erblicken.
»Sie können sich aber auch zur Abwechslung Klee in den Arsch stecken«, empfiehlt Hoban sotto voce und wiederholt den Witz auf Russisch, damit auch sein Gesprächspartner am Telefon mitlachen kann.
Wie sich herausstellt, ist der eigentliche Anlaß für die Geschäftskonferenz, an der Oliver teilnimmt, Jewgenijs großer Traum, und der große Traum besteht darin, die vier Dörfer des Kreuzes zu einer einzigen Weinbaukooperative zusammenzuschließen, die durch gemeinsame Nutzung von Land, Arbeitskräften und Ressourcen, durch Umleitung von Wasserläufen und Anwendung von Methoden, wie sie in Ländern wie etwa Spanien gebräuchlich sind, imstande sein wird, den besten Wein nicht nur Mingreliens und nicht nur Georgiens, sondern der ganzen Welt zu produzieren. »Das wird etliche Millionen kosten«, meint Hoban lakonisch. »Vielleicht Milliarden. Diese Idioten haben ja alle keine Ahnung. ›Wir müssen Straßen bauen. Wir müssen Dämme bauen. Wir müssen Maschinen kaufen und im Tal ein Lagerhaus bauen.‹ Wer soll denn diesen Scheiß bezahlen?« Die Antwort, so ergibt sich, lautet: Michail und Jewgenij Orlow. Jewgenij hat bereits Weinbauexperten aus Bordeaux, Rioja und Napa Valley einfliegen lassen. Sie haben den hiesigen Wein einstimmig für erstklassig erklärt. Seine Kundschafter haben Temperaturen und Niederschläge aufgezeichnet, die Neigungswinkel der Berghänge vermessen, Bodenproben genommen und Pollenmengen bestimmt. Bewässerungsfachleute, Straßenbauer, Spediteure und Importeure haben bestätigt, daß der Plan eine todsichere Sache ist. Das Geld werde er auftreiben, versichert Jewgenij den Dorfbewohnern, da könnten sie ganz beruhigt sein. »Der gibt diesen Arschlöchern jeden Rubel, den wir einnehmen«, bestätigt Hoban.
Der Abend senkt sich schnell herab. Ein zorniger blutroter Himmel flammt hinter den Gipfeln auf und erstirbt. In den
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