Untot mit Biss
mir überlassen, sie eine Zeit lang zu schützen?« Es klang wie eine Frage, aber der große Franzose führte mich in den Flur, ohne eine Antwort abzuwarten. Von dort ging es in einen großen Raum. Sofort darauf erblickte ich meine alte Nemesis, aber nicht unter den Umständen, die ich mir ausgemalt hatte. Tonys schwammiges Gesicht sah aus wie immer, was mich kaum überraschte, denn abgesehen von der Kleidung hatte er sich seit 1513 nicht verändert. Er trug, was ich für einen Mafioso-Anzug hielt: ein Nadelstreifen-Ding, das aussah, als hätte es einmal dem Rausschmeißer eines Speakeasy gehört. Vielleicht täuschte dieser Eindruck nicht. Tony mochte den Anzug, denn jemand hatte ihm einmal gesagt, dass vertikale Streifen ihn schlanker machten. Von wem auch immer diese Behauptung stammte: Er hatte gelogen. Tony war mit mehr als hundertfünfzig Kilo gestorben, was angesichts seiner Größe von etwa eins fünfundsechzig bedeutete, dass er aussah wie ein Fußball mit Beinen. Selbst mit der strengsten Diät und noch so viel Bewegung ließ sich das jetzt nicht mehr ändern. Trotz seines Gewichts und eines Modegeschmacks, der direkt aus der Hölle zu kommen schien, sah Tony besser aus als sein Chefgorilla Alphonse, der wie immer links hinter ihm stand. Zwar waren sie derzeit nur Reflexionen in einem großen Spiegel, aber ich sah, dass sie sich wieder in ihrer alten Hochburg in Philly befanden. Es überraschte mich, dass Tony den Nerv hatte, dorthin zurückzukehren, doch eigentlich hätte ich es wissen sollen: An Mumm mangelte es ihm gewiss nicht. Er saß auf seinem üblichen Stuhl, einem Thron, der aus einem Bischofspalast stammte, damals, als man noch viele Schnitzereien und Vergoldungen verwendet hatte. Die Rückenlehne lief in einer Höhe von etwa ein Meter achtzig spitz zu, aber Alphonse brauchte sich nicht auf die Zehenspitzen zu stellen, um darüber hinwegzusehen. Seine Größe blieb ohne positive Wirkung auf das allgemeine Erscheinungsbild. Er war wie jemand gebaut, der wusste, wie ein richtiger Schläger auszusehen hatte, und er hatte eines der grässlichsten Gesichter, die ich kannte. Nicht im Sinne eines interessanten Hollywood-Schurken – der Typ war schlicht und einfach hässlich. Vor seiner Verwandlung soll er einer von Baby Face Nelsons Killern gewesen sein, aber er schien selbst einiges abbekommen zu haben, und zwar von einem Baseballschläger mitten ins Gesicht. Als Kind war ich von seinem Profil fasziniert gewesen, denn die Nase stand nicht weiter vor als der Neandertaler-Brauenwulst.
Ich konnte nur lachen, wenn Filme Vampire als hinreißend, sexy und mit einem unbegrenzten Vorrat an teurer Kleidung darstellten. Die schlichte Tatsache lautete: Wenn man tot war, sah man genauso aus wie zu Lebzeiten. Ich schätzte, in Hunderten von Jahren lernte man den einen oder anderen Schönheitstrick, doch die meisten Vampire scherten sich nicht darum. Einige der jüngeren unternahmen in dieser Hinsicht gewisse Anstrengungen, weil es die Jagd erleichterte, doch den meisten älteren war es völlig gleich. Make-up schien Geldverschwendung zu sein, wenn man für die Sterblichen so aussehen konnte, wie man wollte, von Marilyn Monroe bis zu Brad Pitt. Obgleich mir der Zauberspiegel Tony und seinen Oberschläger zeigte, blieb ich guter Dinge. Mit dem rosaroten BH, der zwischen den Fetzen meines zerrissenen T-Shirts zu sehen war, dem zerkratzten, blutigen Gesicht und tropfendem Vampirschleim am Körper sah ich viel anrüchiger aus als sie. Ich war noch immer ein Mensch und lebte, und Tony schien nicht recht glücklich zu sein. Womit die positiven Aspekte meiner Situation genannt waren. Tony war nicht das einzige Problem in Sicht, aber ich glaubte, eine gewisse Chance zu haben, weil ich es bis hierher geschafft hatte. Wenn mich der Senat tot sehen wollte, so hätte mich sein Spion während der vergangenen sechs Monate jederzeit töten können.
Ich sah durch den großen Raum dorthin, wo Tomas eingetreten war. Er stand unweit der Tür und kam damit streng genommen meiner Forderung nach, Abstand zu wahren, aber nach meinem Geschmack war er mir noch immer viel zu nahe. Er sprach mit einem von insgesamt vier blonden, eins achtzig großen Wächtern, die aussahen, als wären sie aus einem mittelalterlichen Wandteppich getreten, mit Streitäxten auf dem Rücken und Helmen, die über einen Nasenschutz verfügten. Ich bemerkte, dass er eine schwarze Denimjacke über seine Club-Klamotten gestreift hatte. Sie passte zu der Jeans und
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