Untot mit Biss
reisen, nur um dort ein Esszimmer auszumalen. Das war nicht besonders klug von ihm gewesen. Seit damals malte Rafe überall dort, wo Tony es wollte, auch in meinem Schlafzimmer, als ich ein Kind gewesen war. Er hatte der Decke meines Zimmers Engel gegeben, die so echt aussahen, dass ich mich von ihnen im Schlaf beschützt gefühlt hatte. Rafe gehörte zu den wenigen Leuten bei Tony, die ich ungern zurückgelassen hatte, aber ich war trotzdem ohne ein Wort des Abschieds fortgeschlichen. Mir war gar keine andere Wahl geblieben: Er gehörte Tony, und wenn sein Herr ihm eine direkte Frage stellte, musste er wahrheitsgemäß antworten. Wenn er sich jetzt also an diesem Ort befand, so deshalb, weil Tony es so wollte. Diese Erkenntnis trübte meine Freude über das Wiedersehen ein wenig.
Tomas schwieg, machte aber keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Ich richtete einen finsteren Blick auf ihn, ohne damit irgendeine sichtbare Wirkung zu erzielen. Das war ein Problem, denn ich wollte fliehen, und je mehr Babysitter es gab, desto größer die Herausforderung. Hinzu kam: Wenn ich ihn auch nur ansah, brodelten so viele Emotionen in mir, dass ich Kopfschmerzen bekam. Es war nicht die Gewalt, die mir so sehr zusetzte. Davon hatte ich in meiner Jugend so viel gesehen, dass ich mit einem Achselzucken über die Ereignisse im Club hinweggehen konnte, nachdem ich wusste, was Tomas war. Es half, dass ich nicht mehr in Blut kniete und die Vampire, die es auf mich abgesehen hatten, getötet worden waren. Meine Haltung ließ sich ganz einfach beschreiben: Ich lebte, sie nicht, gut so. Das Leben bei Tony lehrte einen, in diesen Dinge praktisch zu denken.
Ich hielt es Tomas zugute, dass er mir das Leben gerettet hatte. Allerdings wäre ich längst weit weg und außer Gefahr gewesen, wenn ich nicht versucht hätte, ihn zu warnen. Ich war sogar bereit, darüber hinwegzusehen, dass er mich ohne ein Wort der Erklärung fortgetragen hatte – ich glaube, zu jenem Zeitpunkt war ich nicht unbedingt in der richtigen geistigen Verfassung, ein ruhiges, vernünftiges Gespräch zu führen. Alles in allem waren wir quitt, abgesehen von dem Verrat. Der stand auf einem anderen Blatt und stellte etwas dar, das ich ihm so schnell nicht verzeihen würde.
Ich hatte Tomas dies und das von meiner Zeit auf der Straße erzählt – Dinge, von denen sonst niemand wusste –, um ihn zu ermutigen, sich mir ein wenig zu öffnen. Ich war besorgt gewesen, dass er keine Freundschaften schloss, trotz all der Aufmerksamkeit, die er im Club bekam. Vielleicht, so hatte ich mir überlegt, litt er an der gleichen Beziehungsangst wie ich. Verdammt, ich hatte ihn lieb gewonnen, und die ganze Zeit über war alles, was er mir erzählt hatte, gelogen gewesen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er mir bewusst den Willen gestohlen hatte. Bei der Erinnerung daran, wie sehr ich mich dabei zur Närrin gemacht hatte, begannen meine Wangen zu glühen. In Vampirkreisen galt so etwas als ernste Sache. Wenn ich auf Tonys Seite gewesen wäre, hätte er sich über ungebührliche Beeinflussung einer seiner Bediensteten geärgert.
»Lass mich mit ihr reden«, sagte Tomas zu Rafe. Bevor ich Einwände erheben konnte, verließen die anderen den Raum und gaben uns die Illusion von Privatsphäre. Natürlich war das nur Show; Vampire hörten so gut, dass es überhaupt keinen Unterschied machte.
Ich versuchte gar nicht, leise zu sprechen. »Ich fasse mich kurz«, sagte ich wütend. »Du hast mich belogen und betrogen. Ich will dich nicht sehen, nicht mit dir reden und nicht einmal die gleiche Luft atmen wie du. Nie wieder.
Kapiert?«
»Cassie, versuch bitte, mich zu verstehen. Ich habe nur getan, was ich tun musste …«
Ich merkte, dass er etwas in der Hand hielt. »Und was machst du mit meiner Handtasche?« Natürlich hatte er sie durchsucht – Tony wusste, welche Überraschungen ich darin aufbewahrte –, aber bei Tomas fühlte es sich wie ein weiterer Verrat an. »Hast du irgendetwas herausgenommen?«
»Nein. Es fehlt nichts. Cassie …«
»Gib sie mir zurück!« Ich griff danach und wäre fast gefallen. »Du hattest kein Recht …«
»Turm! Turm! Turm!« Das Tarot-Kartenspiel fiel zu Boden und schien einen hysterischen Anfall zu haben. Ich fühlte Tränen in den Augen. Es mochte nur ein dummes Kartenspiel sein, aber es war die einzige Sache, die ich von Eugenie erhalten hatte.
»Du hast es kaputtgemacht!«
Ich sammelte die verstreuten Karten auf, und Tomas ging neben mir in
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