Untot | Sie sind zurück und hungrig
Längen- und Breitengrade, alles drauf.« Er zeigt auf die Karte. »Das hier muss der Fluss sein – und hier die Farmgebäude und die Brücke.« Er nickt und ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Das lässt sich hinkriegen!«
Ich beuge mich über ihn. »Du meinst, das stimmt wirklich? Diese Gradangaben, das hat meine Mutter mir sagen wollen?«
Er sieht zu mir hoch. »Na ja, es ist deine Mutter. Meinst du, sie würde so was in der Art machen?«
Darüber brauche ich nicht einmal nachzudenken; das ist absolut etwas, was sie machen würde. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, laufe ich rot an, weil mir etwas einfällt, an das ich schon lange nicht mehr gedacht habe.
Eine Reise, die wir kurz vor unserem Umzug in die Staaten gemacht haben. Meine Mutter und ich, im Zelt, ein Campingwochenende. Solche Sachen habe ich normalerweise mit meinem Vater gemacht – vor allem, weil meine Mutter immer viel zu viel gearbeitet hat, um ein ganzes Wochenende mit mir verbringen zu können –, aber diesmal schaffte sie es, mich mit einem Last-Minute-Abenteuer zu überraschen.
Wir sind an irgendeinen See gefahren; es war Sommer und ich bekam voll den Sonnenbrand, als ich am ersten Tag im eiskalten Wasser spielte. Dann gab es noch ein Lagerfeuer und Insekten – Mücken und Wespen und in meinem Schlafsack einen großen Käfer mit Geweih. Mum meinte, dass ich nicht albern sein sollte und vor den Krabbeltierchen keine Angst zu haben bräuchte.
Und am nächsten Tag machten wir einen Orientierungsmarsch. Es gab da in der Gegend einen bedeutenden Steinhaufen, der irgendetwas markierte und einen ganz beknackten Namen hatte, Folly’s Cairn oder Bluff’s Outcrop oder so, und wir hatten eine Karte und einen Kompass dabei und bestimmten damit immer wieder unsere Position. Wir querten Hänge und marschierten entschlossen durch Wälder, in denen der Kieferngeruch so schwer hing, dass Mums Asthma ausgelöst wurde.
Ich begriff eigentlich kaum etwas. Sie versuchte mir beizubringen, wie man mit Hilfe von Kompass und Karte den Weg fand, aber ich bekam es nicht hin. Ich war neun , Leute; ich hielt in den Waldschatten immer noch Ausschau nach Feen und Ungeheuern.
Aber das Leben mit Mum hatte mich gelehrt: Wenn du nicht weißt, was du tust, dann tu so, als ob. Folglich schummelte ich wild drauflos und gab vor, genau zu wissen, wo wir hingingen, und durch reinen Zufall lag ich damit öfter richtig als falsch. Ich staunte förmlich über mein Glück. Ich täuschte ihr das dermaßen gut vor, dass mir meine Mutter gegen Ende der Wanderung, als wir auf eine Lichtung traten und mir schon der Magen knurrte und ich mich langsam darauf freute, nach dieser langen und abenteuerlichen Reise wieder zur Schule zu gehen, plötzlich Karte und Kompass in die Hand drückte und erklärte, dass ich jetzt auf mich allein gestellt wäre.
»Von hier aus kenne ich den Weg.« Sie strich mir die Haare aus den Augen. »Aber ich will, dass du es allein dort hinschaffst. Orientiere dich anhand der Koordinaten und wir sehen uns beim Dead Man’s Pile Up.« (Klar, ich kann mich an den Namen dieser Steine nicht erinnern, aber ein bisschen künstlerische Freiheit wird ja wohl noch erlaubt sein.)
Damit spazierte sie in den Wald davon.
Als ich den schmalen Weg hinuntersah, die Karte schwer und lappig in meiner Hand, da wusste ich, dass meine Mutter wirklich wegbleiben würde. Das war wieder so einer ihrer Tests: Wenn ich bestand, dann war das Wochenende ein Erfolg. Wenn ich versagte, war ich eindeutig nicht nach ihr geraten.
Karte und Kompass fest umklammert, trat ich auf den Weg hinaus. Wenn ich ein paar Minuten ging, dann verschwanden die Bäume ja vielleicht und ich würde auf ein Feld mit einem großen ollen Steinhaufen stoßen und Mum säße da obendrauf wie ein Kobold am Ende des Regenbogens. Babyleicht.
Aber so lief es natürlich nicht. Und ab da wird meine Erinnerung ein bisschen verschwommen. Ich weiß noch, dass ich gewandert und gewandert und gewandert bin, der Wald wurde dunkler und ich erinnere mich an das ungute Gefühl, dass ich doch schon viel zu weit gegangen war, um noch richtig sein zu können. Ich weiß noch, dass ich auf einen Bach gestoßen und ihm gefolgt bin, weil Bäche ja immer irgendwo hinführen. Und dann kam die Nacht. Ab da verblasst meine Erinnerung, weil ich das, glaube ich, verdrängt habe. Bloß daran, wie ich auf dem Parkplatz wieder aufgewacht bin, und an das blinkende Blaulicht der Polizei und dass Dad meine Mutter
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