Untreu
danke. Ich hätte gern...
Wieder das Zögern. Es war ein sehr warmer Sommerabend gewesen, nicht lange vor ihrem ... Verschwinden. Draußen senkte sich langsam die Dunkelheit herab. Sie hatte an der Tür zu seinem Arbeitszimmer gestanden, die Hand noch auf der Klinke, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie bleiben oder gehen wollte.
Setz dich doch erst mal.
Eine Stehlampe warf einen kleinen Lichtkreis auf den Schreibtisch, der Rest des Raums war voller dämmriger Schatten. Er sah Karin an. Ihre blonden Haare schienen zu leuchten, ihr Gesicht war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Sie trug Jeans und einen schwarzen Pullover wie so oft. Manchmal stellte er sie sich im Kostüm oder im Abendkleid vor. Manchmal nackt in seinen Armen.
Setz dich doch
, wiederholte er.
Danke.
Sie ließ die Dunkelheit hinter sich und nahm ihm gegenüber Platz. Ganz gegen ihre Gewohnheit sah sie ihn schweigend an. Da erst bemerkte er, dass es ihr nicht gut ging. Ganz und gar nicht gut.
Was ist, Karin? Sag's mir, vielleicht kann ich dir helfen.
Sie schüttelte den Kopf mit einem verzagten Gesichtsausdruck, den er an ihr noch nie wahrgenommen hatte.
Ich glaube, ich kann damit nicht zu dir kommen.
Warum denn nicht? Sieh mich einfach als Freund.
Er wollte Karin gegenüber nicht in den neutralen Part des Seelsorgers schlüpfen. Wenn er schon nicht ihr Liebhaber werden konnte, wollte er wenigstens ihr Freund bleiben.
Sag mir einfach, was los ist, und wir reden ganz normal darüber. Okay?
Bertold...
Okay?
Ja. Danke.
Vielleicht doch ein Glas Wein?
Nein.
Und in dem Moment, in dem er dachte, sie würde doch wieder aufstehen und ihn im Ungewissen lassen, hatte sie zu reden begonnen.
Grimm spürte einen Hauch Schweiß in seinem Nacken, ein leiser Schauer überfuhr seine Oberarme. Er hatte die Polizei angelogen. Vielleicht war er Schuld an einem Mord.
Nein. Nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein, es musste eine andere Erklärung geben.
Ich habe Angst vor meiner eigenen Tochter.
Hatte er richtig gehört?
Wie meinst du das, vor deiner Tochter? Vor Maria? Ich meine, warum vor Maria?
Maria war fünfzehn, ein hübscher, schwieriger, rebellischer Teenager, wie es Tausende gab. An ihr gab es nichts Besonderes. Aber dann stieg eine leise Ahnung in ihm hoch.
Hat sie... Weiß sie...?
Ich glaube nicht.
Ihre Antwort kam hastig, als hätte sie selber schon unzählige Male darüber nachgedacht.
Ich war immer sehr vorsichtig, ich meine, ich kann mir nicht vorstellen...
Hast du sie gefragt?
Nein! Das könnte ich nie, das wäre furchtbar.
Ich meine, vorsichtig?
Bertold. Ich kann sie doch so was nicht fragen, nicht meine eigene Tochter. Sie würde doch sofort was merken.
Wenn du es geschickt anstellst...
Nein! Ich glaube, du verstehst gar nichts.
Einen Moment lang war er tödlich beleidigt - einen Moment zu lang, denn sicher hatte sie es ihm angesehen. Dann fing er sich wieder, aber es war zu spät.
Ich meine doch einfach nur, ob sie irgendetwas ahnt von dir und diesem... Mann. Das kann man doch ganz unauffällig in Erfahrung bringen.
Nein, das kann man nicht. Entschuldige, dass ich dich mit dieser Sache... Ich muss allein damit klarkommen. Meine Gefühle sind ein scheußliches Chaos zurzeit. Ich will dich damit nicht belästigen.
Karin...
Maria ist mir ... unheimlich. Ich kann das anders nicht sagen.
Inwiefern unheimlich? Was tut sie?
Sie starrt mich an, wenn sie glaubt, ich merke das nicht. Sie erzählt nichts. Sie lächelt nicht. Sie behandelt mich wie Luft. Und sie ist so blass. Ich meine, wir haben diesen wunderbaren Sommer, und sie ist immer blass.
Wie verbringt sie denn ihre Nachmittage?
Sie verschwindet einfach. Wenn ich sie frage, wenn ich sie halten will, wenn ich sie zum Gespräch zwingen will, sieht sie mich an, als wäre ich eine Irre.
Weiß Thomas davon?
Thomas...
Sie schüttelte den Kopf.
Ich kann nicht mit ihm darüber reden. Er liebt Maria, er lässt nichts auf sie kommen. Er behandelt sie wie eine Erwachsene. Aber sie ist nicht erwachsen. Sie ist auch nicht wie er. Und das begreift er nicht.
Aber wenn du ihm sagst...
Sie stand auf.
Danke, Bertold, aber das bringt nichts. Ich muss nach Hause. Thomas kommt gegen zehn, wir müssen uns die Pläne für die neue Terrasse ansehen. Er findet das unheimlich wichtig.
Soll ich dich nach Hause fahren?
Wieso denn das? Ich meine - vielen Dank für das Angebot, aber ich bin ja mit dem Wagen da.
Ich dachte nur, du siehst müde aus. Es macht mir wirklich
Weitere Kostenlose Bücher