Untreu
zurückzuholen.
Bertold Grimm saß in seinem alten Ford Mondeo und war beinahe glücklich. Niemand konnte ihn hier stören, niemand ihn um Rat fragen, niemand ihn mit seinen Problemen belasten. Grimm war Tröster und Beichtvater für so viele und hatte selbst keinen Menschen, dem er hätte erzählen können, was in ihm vorging. Er sah sich während einer der zahllosen Predigten in »seiner« Kirche, einem hässlich uninspirierten Bau aus den sechziger Jahren: Ein Mann, der auf seine immer weiter schrumpfende, hauptsächlich aus Gebrechlichen und Frustrierten bestehende Gemeinde hinunterblickte und vor lauter Resignation und Selbstablehnung kaum mehr an sich halten konnte. Es gab viel bessere Pfarreien mit engagierteren, jüngeren Gläubigen; er hatte sich jahrelang um eine Versetzung dorthin bemüht und immer wieder Absagen erhalten. Nun saß er fest. In einem Viertel mit stets wachsendem Moslemanteil, zwischen alten Frauen, kranken Männern und den wenigen jungen Paaren, die Kinder hatten und noch nicht weggezogen waren. Ohne einen einzigen Gesprächspartner, auf dessen Gesellschaft er sich wirklich freute.
Aber jetzt steckte im CD-Player eine Single-Auskopplung eines Herbie-Hancock-Konzerts. Zwei weitere CDs, eine von Pat Matheny und eine von Chick Corea, lagen auf dem Beifahrersitz. Drei Stunden würde die Fahrt dauern. Grimm zündete sich eine Zigarette an und bog auf den Autobahnzubringer ein. Der Mondeo produzierte ein seltsam knackendes Geräusch, aber er achtete nicht darauf.
Endlich allein, wenn auch nur für kurze Zeit. Seine Gedanken wanderten ab zu einer Frau, die er hätte lieben können, die sich aber gegen ihn entschieden hatte. Er war nur ihr Vertrauter gewesen, eine Rolle, die ihm nicht gefiel, gegen die er sich wehrte und der er sich doch jedes Mal wieder aufs Neue ergab: Er hatte sonst keinen Platz in Karins Leben, sie gestand ihm keinen anderen zu. Er sah ihr zartes Gesicht vor sich, ihre umschatteten blauen Augen mit langen hellen Wimpern, den immer leicht angespannten, sorgenvollen Ausdruck um ihren fein geschwungenen Mund, ihr schönes, weiches blondes Haar. Er erinnerte sich an ihre behutsamen Bewegungen, wenn sie einem alten Gemeindemitglied die Stufen zum Pfarrhaus hinaufhalf, ihre liebevolle Art, mit Kranken umzugehen, ihre Geduld mit all jenen, für die Deutsch eine mühselige Fremdsprache war, und die nicht zurechtkamen mit der kühlen Effizienz der örtlichen Behörden. Sie war ein guter Mensch im Sinn des Wortes. Ironie und Zynismus prallten wirkungslos an ihr ab: Sie war nicht einmal im Stande, sich auf gemäßigste Weise über andere lustig zu machen. Grimm, der das sehr gut konnte, hatte sich schließlich sogar in ihre Humorlosigkeit verliebt.
Er scherte auf die A 8 und gab Gas, trotz hier noch geltender Geschwindigkeitsbegrenzung. Er fuhr gerne schnell, besonders wenn er nachdachte. Geschwindigkeit hatte eine meditative Wirkung auf ihn; es gab nichts außer der Straße und das gleichmäßige Brummen des Motors, und auf seine Reflexe konnte er vertrauen
. Fahren ist eine Sache der Sinne
, dachte er. Wieder knackte es seltsam im Getriebe, wieder merkte er nichts. Es war ein beinahe körperlicher Genuss für ihn, seine Gedanken ungestört schweifen lassen zu können, ohne dauernd von Unglücklichen, Einsamen und Beladenen unterbrochen zu werden, in dem Bewusstsein, dass sich der zufriedene, anregende Rest der Welt nie zu ihm verirrte.
Karin, dachte er. Er hörte ihre klare, angenehme Stimme so deutlich, als säße sie neben ihm. Sie war wie eine Oase in einer zwischenmenschlichen Wüste gewesen. Intelligent, freundlich und vor allem nicht von jener wohlmeinenden, lähmenden Begriffsstutzigkeit, von der er sich in den letzten Jahren umgeben fühlte wie von Gefängnismauern. Vor ihm erstreckte sich das graue Band der Autobahn: der Weg in eine temporäre Freiheit. Er schaltete die Stereoanlage ein, ein brandneues Modell mit erstklassigen Boxen, der einzige Luxus, den er sich von seinem mageren Gehalt in den letzten beiden Jahren geleistet hatte. Er hörte die Obertöne einer klagenden Trompete und hielt den elektrischen Anzünder an die nächste Zigarette.
Karin.
Störe ich dich?
Nein, gar nicht. Komm rein.
Er schloss sekundenlang die Augen, obwohl er mittlerweile fast 170 Stundenkilometer fuhr. Warum hatte er nichts getan, nichts verhindert? Warum hatte er die Polizei belogen?
Ich muss mit dir reden, Bertold. Kannst du mir...
Was? Sag es ruhig. Willst du ein Glas Wein?
Nein,
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