Untreu
ihn auch jetzt attraktiv, selbst in seinem offensichtlich derangierten Zustand. Sie versuchte, dieses Gefühl der Anziehung wegzudrücken, irgendwohin, wo es sie nicht weiter ablenkte. Die schönsten Hoffnungen konnten sich zu gefährlichsten Querschlägern entwickeln, wenn man sie mit allzu viel Beachtung nährte. Es gab keine Chance für sie beide, und das lag nicht nur an Anton und all den anderen Umständen, die mit seiner Existenz zusammenhingen. Sie gehörten nicht zusammen, nicht in diesem Leben.
»Ihnen aber nicht«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Ihnen geht es nicht gut. Das sieht man.«
Grimm senkte den Kopf und fuhr sich nervös durch seine nassen Locken. Er trug ausgewaschene Jeans und ein graues Hemd. Mona sah große weißliche Schweißränder unter den Achseln.
»Was ist passiert?« Ihre Stimme klang mitfühlender, als sie wollte. Sie riss sich innerlich am Riemen.
Grimm sah sie an, mit dieser freundlichen Direktheit, deren Wirkung sie sich so schwer entziehen konnte. »Tja. Ich hatte einen Unfall.«
»Ja? Wann? Und was für einen?«
Er holte tief Luft, mit einem eigentümlich pfeifenden Geräusch. »Heute. Vor ein paar Stunden auf der Autobahn. Anfangs dachte ich, jemand hat meinen Motor manipuliert. Die Motorbremse war plötzlich außer Kraft gesetzt, wissen Sie, ich wurde plötzlich immer schneller. Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist, es ist wie in einem Film, ich meine, man sieht sein Leben wie in einem Film...« Er brach ab.
»Sie wurden immer schneller? Wie ging das?«
»Der Mann vom Abschleppdienst hat es mir erklärt, aber ich hab's schon wieder vergessen. Irgendein Ventil, oder was weiß ich, ist verstopft. Dann gibt der Wagen Vollgas, egal, was man macht. Man nimmt den Gang raus, und der Motor heult wie ein Ferrari. Ich war ja auf 180. Glücklicherweise hat es da noch nicht geregnet, sonst - keine Ahnung.«
»Das haben Sie gemacht? Bei 180 den Gang rausgenommen?«
»Ja. Es ist nichts weiter passiert. Der Mann vom ADAC meinte, dass das mit dem Motor kein Fremdverschulden sein muss. Der Wagen ist alt, da kann das vorkommen. Es ist auch reparabel. Man muss nur...«
»Moment mal«, sagte Mona. Sie zündete sich ihre sechste Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Wieso Fremdverschulden? Wie kommen Sie darauf?«
Grimm schwieg. Dann sagte er: »Haben Sie ein Glas Wasser?«
»Natürlich. Sie können auch Tee oder Kaffee haben, wenn Sie wollen.«
»Nur Wasser, danke.«
Mona stand auf und ging zu dem kleinen Waschbecken neben der Tür. Sie schenkte Grimm ein Glas voll ein und gab es ihm, bevor sie sich wieder hinter ihren Schreibtisch setzte. Sie versuchte, schnell wieder zu vergessen, dass sie unabsichtlich seine Hand berührt hatte (und den kleinen, angenehmen Schauer, den das in ihr ausgelöst hatte).
»Sie wollen mir etwas sagen. Stimmt doch, oder?«
»Möglicherweise... ist mir etwas eingefallen, das wichtig sein könnte.«
Es war vier Tage nach ihrem Verschwinden gewesen. Grimm hatte es anhand von Zeitungs- und Fernsehberichten zurückdatiert, nachdem die Leiche Thomas Belolaveks gefunden worden war - vier Tage. Ungefähr.
Der schöne Sommer war abrupt in einen unangenehmen, kalten Frühherbst übergegangen. Grimm hatte zum ersten Mal seit Monaten die Heizung angedreht. Er saß fröstelnd in der Küche und trank Tee. Er dachte an seine letzte Beziehung, die zwei Jahre zurücklag und endete, weil seine Freundin Kinder haben wollte und er nicht. Sie hatte das nie verstanden, und er hatte es ihr nicht begreiflich machen können. Es war die zweite Beziehung, die aus diesem Grund zerbrochen war.
Er dachte daran, dass Karin Belolavek die erste Frau war, bei der er an gemeinsame Kinder dachte, und er mutmaßte, dass es vielleicht daran lag, dass sie so unerreichbar für ihn war. Die menschliche Natur war so beschaffen, dass sie sich nach dem sehnte, was sie nicht haben konnte, und vielleicht war das der göttliche Funke in ihr. Wirklich zufriedene, angstfreie Menschen würden Gott nicht suchen.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Grimm zuckte verärgert zusammen. Er überlegte, ob er einfach den Anrufbeantworter anspringen lassen sollte, aber dann ging er doch hin. Eine ferne, verzerrt klingende Stimme, die Stimme einer Frau.
...Bertold?
Ja? Wer ist da?
Ich bin's.
Oh - Karin? Was ist los? Wo bist du?
In der Leitung knirschte und knatterte es. Vielleicht telefonierte sie von einem Handy aus, vielleicht befand sie sich auch im Ausland. Er wusste, dass sie in
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