Untreu
eine Art Quersumme aller Fakten, die sie im Laufe der vergangenen sechzehn Tage in mühsamer Kleinarbeit gesammelt und verwertet hatten. Mit Intuition hatte das nichts zu tun.
Bei Theresa Leitner liefen alle Fäden zusammen. Aber wieso? In jedem Fall war irgendetwas schief gegangen. Das passierte häufig. Es gab den perfekten Mord, aber nicht so, wie ihn sich die Leute vorstellten. Der perfekte Mord war ein Bandenmord, gedeckt durch das Gesetz des Schweigens. Der perfekte Mord wurde an alten, kranken Angehörigen begangen, indem man die bereits Geschwächten mit einem Kissen erstickte oder ihnen Mund und Nase zuhielt. Keine Spuren, keine Hinweise, keine Lust auf Scherereien: Der herbeigerufene Hausarzt schrieb die Floskel »Tod durch Herzversagen« auf den Totenschein, und schon war der Fall erledigt, weil es keinen Fall gab.
Der perfekte Mord nach einem ausgeklügelten Plan war dagegen eine ganz andere Geschichte. Zu viele Eventualitäten, die die Täter vorher nicht bedachten. Zu viele Mitwisser, die plötzlich Skrupel bekamen oder sich als Erpresser betätigten. Zu viel Pfusch bei der Tat selber.
Was war hier der Plan gewesen?
Was wäre, wenn sie Karin und Maria finden würden wie Thomas Belolavek, vergraben, verwest, unkenntlich?
»Kannst du nicht noch einen Zahn zulegen?« Mona biss sich auf die Unterlippe, Berghammer würdigte sie nicht einmal einer Antwort. Er fuhr konstant 160 trotz der Wassermassen um sie herum. Mona drehte sich um, aber sie konnte nicht erkennen, ob der Wagen hinter ihnen derjenige Fischers war.
»Die nächste Ausfahrt müssen wir raus«, sagte Lemberger ein paar Minuten später. Mona atmete auf, Berghammer blinkte und bremste ab. Der Wagen hinter ihnen blinkte ebenfalls.
»Wie weit ist es jetzt noch?«, fragte Berghammer. Mona sah sein Profil im Schein der Rücklichter vor ihnen; es sah hart aus wie Granit.
»Zwanzig Minuten ungefähr.«
Maria schlug die Augen auf. Sie hörte Stimmen, zwei Frauen. Ihre Mutter und eine andere. Sie stritten.
»...das kannst du nicht machen...«
»...warum...«
»... bitte nicht...«
Sie lag auf einem... Sofa. Sie war nicht mehr müde, und ihre Stummheit war vorbei. Sie sagte leise ihren Namen vor sich hin.
Maria.
Sie waren hier in einem Haus, das ihr nicht gefiel. Es roch... alt. Es war dunkel, denn die Fenster waren klein. An den Wänden waren hässlich gemusterte Tapeten, und die Küche war bestimmt mehr als zwanzig Jahre alt. Die Bäder waren braungrün gefliest. Maria hasste dieses Haus, aber sie war nicht in der Lage wegzugehen. Sie musste erst wieder ... auftauchen. Sie war in einer Höhle gefangen. Sie konnte nicht reden und sich nicht erinnern.
...PAPA!...
...sich nicht erinnern...
Aber jetzt... erinnerte sie sich. Alles kam zurück. Schälte sich ganz langsam aus der Dunkelheit.
31. August. Der Tag, an dem sie versucht hatte, einen Menschen zu töten - Milan, den Geliebten ihrer Mutter.
31. August. Es ist neun Uhr abends, Maria befindet sich in ihrem Zimmer. Sie hört ein Klingeln an der Haustür. Ihre Mutter ist nicht da, sie ist mit dieser Freundin, dieser Theresa, essen. Sie geht auf die Galerie und sieht hinunter, mit einem dumpfen unbehaglichen Gefühl im Bauch.
Maria hat an diesem Tag versucht, einen Menschen zu töten.
Dieser Mensch steht jetzt unten im Flur, sie sieht ihn von der Treppe aus.
Milan.
Er spricht mit ihrem Vater...
Er sagt ihm, was passiert ist. Das glaubt sie jedenfalls, denn sie kann seine Worte nicht verstehen, weil sie wieder dieses Rauschen in den Ohren hat.
Aber sie sieht von oben das entsetzte Gesicht ihres Vaters.
Sie hört: »... Das ist doch Quatsch! Meine Frau...«
Es war ein heißer Tag, der Abend ist immer noch drückend schwül. Von ferne grollt Donner.
»...verschwinden Sie hier!«, ruft ihr Vater. »Raus!«
Etwas knallt. Eine Tür. Ein Windstoß hat eine Tür knallen lassen. Die Fenster stehen weit offen, und es ist schon oft passiert, dass ein plötzlicher Windstoß von draußen einen Blumentopf auf den Boden geschleudert hat. Maria geht in ihr Zimmer und sieht aus dem Fenster in den Garten hinab. Milan, der Mann, den sie töten wollte, ist ihrem Vater gefolgt, der aus irgendeinem Grund in den Garten gegangen ist. Milan und ihr Vater sind jetzt beide draußen im Garten. Wolken ballen sich am Himmel, eine weitere Bö fegt über das Gras, die ersten Tropfen fallen. Die Dunkelheit bricht ein.
Milan hat plötzlich ein Messer in der Hand.
Wie sie heute früh. Es ist ein Albtraum.
Er
Weitere Kostenlose Bücher