Untreu
es zu spät für derartige Erwägungen, nicht wahr, mein Geliebter? Jetzt sind wir, ob wir es wollen oder nicht, gefangen in unserer Geschichte, die wir nicht mehr selbst beeinflussen können, denn dafür sind wir zu weit gegangen. Das, was wir - oder nur ich? - beschworen haben, ist nun eingetreten, und statt uns steuert jetzt das Schicksal ein Geschehen, das außer Kontrolle geraten ist - außer meiner Kontrolle jedenfalls.
Dass du so geworden bist, wie du jetzt bist, ist jedenfalls allein meine Schuld. Ich bin die Ältere, ich hatte die Verantwortung, ich hätte alles so einrichten können, dass wir Freunde geblieben wären, ohne das - andere. Oder sind wir wie zwei Chemikalien, die nur so und nicht anders aufeinander reagieren konnten, auf Grund unserer einzigartigen Struktur? Wie auch immer, ich wünschte, ich hätte die Macht, alles rückgängig zu machen, noch einmal da anzufangen, wo wir uns gefunden haben. Ich wäre vernünftiger, das schwöre ich dir. Ich hätte mich auf die Rolle, wenn schon nicht der Mutter, so wenigstens der großen Schwester beschränkt. Ich hätte meine Sehnsucht nach körperlicher Berührung woanders stillen können, stillen müssen. Ich hätte dich nicht belastet mit meinen Problemen, die du nicht lösen kannst.
Aber nun ist alles so gekommen, wie ich es nie wollte. Ich habe nicht gewusst, dass ein Schritt manchmal den nächsten erzwingt, dass man eine eingeschlagene Spur manchmal nicht mehr verlassen kann. Diese Kausalitätenkette hat eine tödliche Logik, die darin besteht, dass man sie immer zu spät erkennt...
Ich bin dir nachgefahren, einen ganzen Tag lang, nein, zwei, drei Tage lang, nein, eine ganze Woche lang. Als ich es einmal getan hatte, konnte ich nicht mehr davon lassen. Ich sah, wie du auflebtest ohne mich. Du warst mit deinen Freunden zusammen, du hast Mädchen angesprochen, du hast gelacht, getanzt, geraucht, getrunken, Drogen genommen und Spaß gehabt. Wir haben keinen Spaß mehr. Alles ist ernst und besessen geworden. Ich spüre, dass dir etwas fehlt, dass ich dich nicht mehr glücklich mache, dass dich aber dennoch etwas an mir festhalten lässt. Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht eine fatale Form der Gewohnheit.
Ich lüge schon wieder. Du entziehst dich mir, das ist die Wahrheit. Wenn ich deinen Körper will, ist da dieses unmerkliche Widerstreben, bevor du mich umarmst. Es ist, als wolltest du mir etwas sagen, bevor wir uns erneut ins Reich der Besessenheit begeben, das uns beide schon lange nicht mehr glücklich macht. Jedes Mal wieder nehme ich mir vor, es diesmal langsam und souverän angehen zu lassen, und jedes Mal misslingt es mir. Es ist, als müsste ich mit einem Riesensprung eine immer breitere Kluft überwinden, um zu dir zu gelangen. Ich schaffe das nur noch mit Sex. Zärtlichkeiten kommen bei dir nicht mehr an. Du nimmst mich, weil ich es will und brauche, es ist ein Gefallen, den du mir tust. Du machst es mir schnell und hart wie einer Prostituierten, damit es rasch vorbeigeht. Du siehst danach heimlich auf die Uhr, deine Ungeduld ist geradezu messbar: Sie wächst, je länger ich da bin.
Nur Gewalt erregt dich noch. Ist es das, was ich will? Dass du bei mir bleibst, weil ich dir Dinge erlaube, die andere Mädchen nicht zulassen würden?
Gleichzeitig bemühst du dich geradezu rührend, mich deine innere Unrast nicht merken zu lassen. Du machst Vorschläge, was wir unternehmen können (alles, scheint mir, ist dir recht, um nicht länger als notwendig mit mir im Bett bleiben zu müssen). Du unterdrückst einen permanent gereizten Unterton, du setzt ein Grinsen auf, das wie eine Karikatur deines früheren warmen Lächelns wirkt. Und ich bin nicht im Stande, diese Zeichen so zu deuten, wie du es von mir erwarten könntest: als die stumme Bitte, dich endlich aus dieser Situation zu erlösen. Ich weiß, dass du Angst hast: mir zu sagen, dass es aus ist. Ich nutze diese Angst, denn ich kann jetzt nicht einfach gehen, bitte versteh mich, ich kann es einfach nicht. Ich habe nichts mehr außer dir, keine Liebe, keine Visionen, keine Lebensfreude, keine Zukunft. Wenn du mich verlässt, bin ich leer. Dann gibt es mich nicht mehr.
Wie konnte es so weit kommen mit mir? Ich war immer ausgeglichen und vernünftig. Ich war nett und hilfsbereit, das kann dir jeder bestätigen. Ich war intelligent, und nicht nur das: Ich habe mir eine Menge auf meinen scharfen, analytischen Verstand eingebildet, der mich jetzt vollkommen im Stich lässt. Ich bin einer
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