Untreu
und sich mit dem Rücken zu Farkas setzen sollte, dann dachte er, dass das dessen Aufmerksamkeit erst recht auf ihn lenken würde. Er verschränkte die Arme. Ihm fielen die beigebraun marmorierten Plastikplatten auf, mit denen der Innenraum des Zuges verschalt war. Es wirkte schmuddelig und heruntergekommen. Wer dachte sich so etwas aus?
Farkas erhob sich und stellte sich an die Tür. Eine Hand ruhte lässig an der Haltestange. Mit der anderen fuhr er sich durch die Haare; von seinem Sitz aus konnte Bauer beobachten, wie er sich dabei wohlgefällig in der spiegelnden Scheibe betrachtete - ganz anders als Bauer vorhin. Er überlegte, was er jetzt tun sollte. Aufstehen kam nicht in Frage. Außer ihnen beiden waren nur noch fünf andere Passagiere im Abteil. Keiner von ihnen rührte sich vom Fleck.
Bauer sah scheinbar müde und gelangweilt vor sich auf den Boden. Er war nun doch erstaunt, dass Farkas ihn überhaupt nicht zu erkennen schien. Immerhin hatte Bauer ihn verhört, und das am selben Morgen. Vielleicht lag es an der Mütze. Er zog sie sich tiefer in die Stirn. Der Zug fuhr langsamer und hielt. Farkas zog an dem Aluminiumgriff, die Tür öffnete sich, und er verschwand. Bauer sprang auf, lief zur Tür und spähte vorsichtig hinaus. Farkas ging auf eine Treppe am Ende des Bahnsteigs zu. Bauer verließ den Zug und folgte ihm.
Sofort begann er wieder zu frösteln. Es war inzwischen halb zehn und mindestens drei Grad kälter als noch vor einer halben Stunde in der Innenstadt. Farkas legte wieder sein altes schnelles Tempo vor, die Hände in den Manteltaschen, den Kopf weit vorgebeugt. Bauer lief hinter ihm her, die Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe bewegte sich Farkas nach links. Er durchquerte einen engen Tunnel mit einem schmalen Bürgersteig und bog dann rechts in eine Straße ein, die »Auenweg« hieß.
Außer ihnen war niemand zu sehen. Bauer beglückwünschte sich zu seinen Turnschuhen, die seine Füße nicht warm hielten, aber wenigstens kaum Geräusche machten. Er hoffte, dass sich Farkas weiterhin nicht umdrehen würde, und er wurde von Schritt zu Schritt müder. Die feuchte Kälte machte seinen Körper steif und ungeschmeidig. Er fühlte sich allmählich wie ein alter Mann. Er hatte seit vielen Stunden nichts gegessen und mit niemandem geredet. Seine Gedanken verwirrten sich zu bunten, sinnlosen Gebilden. Es war ihm mittlerweile egal, wohin Farkas ging, Hauptsache, diese Nacht endete irgendwann, irgendwie. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen.
Ein Wohngebiet, aber ganz anders als das, in dem sie vorhin gewesen waren. Hier standen Villen, die alt und wertvoll aussahen inmitten großzügiger Grundstücke. Großzügige Grundstücke, Villen... Irgendetwas an dieser Gegend kam Bauer plötzlich bekannt vor, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis er erkannte, wo sie sich befanden. Sie waren hier gewesen, aber sie hatten keine öffentlichen Verkehrsmittel benützt, deshalb war es eigentlich kein Wunder, dass er nicht sofort geschaltet hatte...
Es war die Straße, in der sie die Leiche Thomas Belolaveks gefunden hatten. Der Schock des Erkennens durchfuhr Bauer wie ein plötzlicher Schmerz und verlieh ihm den Adrenalinstoß, den er brauchte, um noch länger durchzuhalten. Zwanzig, dreißig Meter vor ihm lief Farkas, eilig, aber scheinbar völlig unbesorgt, auf das leere, versiegelte Haus der Belolaveks mit dem zerstörten, entweihten Garten zu. Alle Wertgegenstände im Haus waren längst sichergestellt worden: Es gab hier nichts, das einen »Besuch« lohnen würde. Farkas musste das wissen.
Also, was wollte er hier?
Was wolltest du von mir, ich meine, am Anfang? Was war es, das dich veranlasst hat, mir all diese Dinge zu sagen, die mich mit gnadenloser Sicherheit von meinem geraden, langweiligen, aber harmonischen und überschaubaren Weg abgebracht haben? Das Körperliche kam erst später. Zunächst hast du mich mit Worten gewonnen, das weiß ich noch - aber was genau hast du damals eigentlich gesagt? Ich erinnere mich nicht mehr, ich weiß nur noch, dass deine Worte in meinem Kopf tanzten, Reigen bildeten, sich zu neuen Paarungen fügten und Erwartungen weckten, die du vielleicht niemals vorhattest zu erfüllen. Vielleicht war also alles ein Missverständnis. Vielleicht warst du einfach nur höflich, oder du zeigtest ein für dich typisches Flirtverhalten, das nichts mit meiner Person zu tun hatte. Vielleicht habe ich mich also nach objektiven Kriterien lächerlich gemacht.
Aber jetzt ist
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