Untreu
ist«, sagt sie.
Und Maria sagt es ihr. Sie hat schon früher mit Kai über ihre Mutter gesprochen, über die Abneigung, die sie in letzter Zeit empfindet, wenn ihre Mutter sie anfasst oder auch nur ein Gespräch sucht, das über die üblichen Mutter-Tochter-Informationen hinausgeht, über das Gefühl, dass ihre Mutter nicht mehr da ist für sie, obwohl der Augenschein dagegen spricht, über den Ärger, den Maria in solchen Momenten empfindet. Den ... Hass. Kai hat in solchen Momenten über Eltern an sich gesprochen und über die Anmaßung, die darin liege, zu glauben, sie seien fähiger, intelligenter oder lebenstüchtiger als ihre Kinder.
Wir sind stärker, flexibler und lernfähiger als sie. Sie müssten bereit sein, von uns zu lernen. Ihre Erfahrung ist das Einzige, was sie glauben, uns voraus zu haben. Aber das ist lächerlich. Die Geschichte wiederholt sich niemals, auch wenn sie das behaupten.
Das ist ihre Einstellung. Sie klingt auf seltsame Weise durchaus vernünftig und besonnen, aber sie hat nichts mit Marias Problem zu tun. Ihre Mutter ist da und auch wieder nicht. Sie macht sich Sorgen um Maria und scheint gleichzeitig mit ihren Gedanken woanders zu sein. Sie ist wie ein Geist, der durch das Haus schwebt. Sie wird jeden Tag ungreifbarer. Manchmal wirkt sie wie durchsichtig. Man kann nicht mit ihr streiten. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Ihr Lächeln ist unsicher, ihre Stimme wird immer leiser. Sie strahlt keine Stärke, keine Autorität aus. Vielleicht geht sie eines Tages, und dann bleibt Maria mit ihrem Vater zurück. Ihrem intelligenten Vater, den sie so bewundert und in dessen Gegenwart sie sich trotzdem nie wirklich wohl fühlt.
»Ich will nach Hause«, sagt sie, den Kopf an Kais Brust gelehnt. Ihr Pullover aus rauer Lambswool fühlt sich tröstlich an. Sie schließt die Augen und atmet Kais Geruch ein.
»Nein, Maria.« Sanft wiegt Kai sie hin und her. »Das wäre jetzt ganz falsch. Du musst mit uns darüber reden. Leila hat sehr viel Erfahrung mit solchen Sachen. Du kannst ihr vertrauen.«
Jedem traut Maria mehr als dieser Leila, aber sie will das Kai nicht sagen. Schließlich ist es eine Freundin von ihr, sie hat Maria extra hergebracht, damit sie sich kennen lernen... Sie muss Leila eine Chance geben. Langsam löst sie sich von Kai und geht zurück zum Haus. Jemand in ihr sagt, dass sie einen Fehler macht, dass die Geschichte zwischen Kai und ihr hier ein Ende haben sollte, aber sie hört nicht hin. Kai ist ihre Freundin. Sie kann ihr gar nichts Böses tun.
Kapitel 18
Bauer schreckte hoch. Er hatte von einem Mädchen geträumt, das er nur von einem Foto kannte. Maria Belolavek. In seinem Traum war er der Lösung ganz nah gekommen. Dieses Mädchen dachte er, erst halb wach, war der Schlüssel zu allem. Sie musste er finden. Er versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, aber der Traum ließ sich nicht zurückholen. Je mehr Mühe sich Bauer gab, desto schneller löste sich der Traum in seine luftigen Bestandteile auf, bis nur ein Gefühl zurückblieb.
Eine Mischung aus Angst und Lust. Bauer vertiefte sich hinein.
Domino,
dachte er plötzlich. Vor seinem inneren Auge erschienen die schwarzen Steine mit den weißen Augen. Warf man einen um, brach die ganze Reihe zusammen. Schlug irgendwo auf der Welt ein Schmetterling mit seinen Flügeln, konnte das am anderen Ende der Welt einen Taifun verursachen. Aber war diese Theorie nicht längst widerlegt?
Plötzlich fuhr er hoch. Farkas! Er war weg, er hatte ihn verloren! Er war eingeschlafen und hatte ihn verloren!
Dann entdeckte er Farkas. Er saß ihm schräg gegenüber, ein paar Sitzgruppen weiter in der Ecke des Abteils, und wirkte ernst und entspannt. Nicht wie jemand, der sich verfolgt fühlte, eher wie jemand, dem alles egal war. Bauer versuchte, sich unauffällig zu geben. Die S-Bahn hielt, eine blechern klingende Stimme sagte: »Donnersberger Brücke«, die Türautomatik machte ein zischendes Geräusch, aber niemand stieg aus. Farkas saß weiterhin auf seinem Platz und starrte in die Dunkelheit vor seinem Fenster. Die S-Bahn fuhr jetzt überirdisch. Bauer sah Lichtreklamen vorbeihuschen; sie passierten eine mit Grafittis verzierte Betonmauer und einen offenbar ausrangierten Bahnhof. Dann hielt der Zug erneut.
Das Abteil wurde allmählich leerer; es stieg kaum noch jemand zu. Bauer hoffte, dass sie nicht irgendwann zu zweit hier saßen, denn dann wäre er Farkas mit Sicherheit aufgefallen. Er überlegte, ob er den Platz wechseln
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